Das Dunkle Meer
Die Mitte des 26. Jahrhunderts war eine komplizierte Periode in der Entwicklung der menschlichen Raumfahrt. Technologische Fortschritte machten Sprungpunkt-Scanner für die Öffentlichkeit wesentlich erschwinglicher und ermöglichten es immer mehr Zivilisten, mit „professionellen“ Kundschaftern zu konkurrieren. Diese Periode der raschen Expansion kam zu einem plötzlichen Stillstand, als Gaia Planet Services begann, einen Planeten im später Pallas benannten System zu terraformen, ohne zu erkennen, dass dieser bereits von einer anderen Spezies bewohnt war. Die folgenden siebenundfünfzig Tage gaben der Menschheit eine ernüchternde Einführung in das Imperium der Xi‘an, während Unterhändler über die Freilassung der Terraformer verhandelten.
In den ersten Jahren nach dem Pallas-Zwischenfall gab es nur zwei bekannte Systeme, die mit dem Xi‘an-Raum verbunden waren. Im Jahr 2531 entdeckte Teesa Morrison den Sprungpunkt Baker-Hadur. Während ihr das bleibende Vermächtnis verwehrt blieb, das üblicherweise mit der Entdeckung eines neuen Systems einhergeht, genoss sie eine kurze Zeit der Berühmtheit, nachdem ihre Flugaufnahmen den Weg zu den Nachrichtensendern gefunden hatten. Darin verwandelten sich ihre sehr lautstarken Jubelrufe nach dem erfolgreichen Abschluss des Sprungs in Angstschreie, als sie auf der anderen Seite einer Flotte von Militärschiffen der Xi‘an gegenüberstand.
Die Jagd nach Sprungpunkten war damit erheblich komplizierter geworden. Als Reaktion darauf rief die UPE die Government Cartography Agency (GCA) (Regierungs-Kartierungsagentur) ins Leben, um ihre Bemühungen bei der Suche nach Sprungpunkten und der Kartierung neuer Systeme zu konsolidieren. Sie führte auch eine Reihe umfassender Richtlinien ein, um sicherzustellen, dass jeder militärische Kundschafter in diplomatischen Protokollen und Verfahren geschult wurde, um potenzielle Konflikte zu vermeiden.
Doch Dahunsil Kosoko ließ sich von der Gefahr nicht abschrecken. Nachdem er acht Monate damit verbracht hatte, sich von einem Schiffsabsturz zu erholen, der ihn sein Bein kostete, verließ Kosoko das Krankenhaus in Prime, holte sich einige Toreadors zum Mittagessen und besorgte sich ein neues Schiff.
Nachdem er sich mit Vorräten eingedeckt hatte, machte er sich auf den Weg zum Hadrian-System (damals Nivelin genannt) mit dem Ziel, „sich seinen Weg durchs ‘Vers zu scannen“. Doch so weit würde er es nicht schaffen. Nach nur drei Wochen intensiver Scans entdeckte er 2539 einen Sprungpunkt in das Gurzil-System. Bei seiner Ankunft auf der anderen Seite des Sprungpunktes erwartete Kosoko geradezu, eine Xi‘an-Flotte vorzufinden, fand jedoch etwas viel Beeindruckenderes: eine protoplanetare Scheibe aus Gas und Mineralien, die einen Hauptreihenstern des Typs K umkreiste.
Das System war die wissenschaftliche Entdeckung des Jahrhunderts und bot der Forschungsgemeinschaft einen noch nie dagewesenen Einblick in die Anfänge eines Systems. Kosoko reichte seine Entdeckungsunterlagen ein, mit der Maßgabe, das System nach seiner Tante Odara zu benennen, doch leider musste die UPE eingreifen. Im Jahr 2542, als die GCA-Kundschafter das System noch begutachteten, tauchte über einen weiteren (bis dahin unbekannten) Sprungpunkt ein Xi‘an-Aufklärungsschiff im System auf.
Der Xi‘an entpuppte sich ebenfalls als Kundschafter, vielleicht deren Version von Teesa Morrison. Das Odara-System war zwar noch nicht Teil des Xi‘an-Imperiums, aber mit diesem verbunden – konkret mit dem System Rihlah, in welchem sich die militärische Welt Shorvu befand. Die UPE zog ihre Kundschafter umgehend ab und sperrte das System für Zivilisten.
Das System wurde umgehend gemäß der Standard-Militärkonvention umbenannt, welche für alle Systeme der Perry-Linie die Namen von Kriegsgöttern vorsah. Odara wurde zu Gurzil, benannt nach der antiken Berbergottheit. Die ausgedehnte Scheibe aus zusammenfließender planetarer Materie machte es unmöglich, das System wirksam zu überwachen, was zu seinem zweiten, noch unheilvolleren Namen führte: das Dunkle Meer.
In den nächsten zwei Jahrhunderten wurde Gurzil zum Schauplatz zahlreicher militärischer Operationen und Dutzender von Opfern. Obwohl die offizielle Todesursache immer Zusammenstößen infolge der schlechten Sichtverhältnisse zugeschrieben wurde, kursierten Gerüchte, dass Kommandoteams der Xi‘an und in den Clustern versteckte Tevarin-Flüchtlinge tatsächlich dafür verantwortlich waren.