Einsames Grenzgebiet
Ein anhaltender Bürgerkrieg, Jahrhunderte des Konflikts und die Tatsache, dass Charon das einzige Systems ist, das sich aus dem Senat der UEE zurückgezogen und damit vom Imperium gelöst hat, sind Gründe genug, um die meisten Reisenden vor einem Besuch des Systems zweimal nachdenken zu lassen. Gelegen an der Grenze mag Charon zwar mit vier anderen Systemen verbunden sein, doch existiert hier noch immer ein tiefes Gefühl der Isolation vom Rest des Imperiums. Diese Mentalität, angeheizt durch die bedauerlichen Maßnahmen, die während der Messer-Ära im System umgesetzt wurden, hat einen feurigen und erbitterten Freigeist zu Tage gebracht, der Charon bis zu diesem Tag definiert – ein Freigeist, der das Regieren dieses Systems fast unmöglich gemacht haben könnte.
Die meisten Erzählungen behaupten, die Entdeckung dieses fünf Planeten zählenden Systems, die einen Hauptreihenstern des Typs K umkreisen, wäre ein Versehen gewesen. Im Jahr 2538 befand sich Max Keaton, ein unerfahrener Pilot der Handelsmarine, auf seinem ersten Versorgungsflug in Helios, als der intensive Sonnenwind des Systems die Sensoren seines Schiffs lahmlegte. Aus Angst, sich zu verspäten, flog Keaton weiter, nur um nach dem Neustart seiner Sensoren festzustellen, dass er in die falsche Richtung geflogen und weit vom Kurs abgekommen war. Entschlossen, nicht noch einen Fehler zu machen, überprüfte Keaton sämtliche seiner Systeme. In diesem Moment bemerkte er einen ungewöhnlichen Messwert auf seinem Display. In einer überraschenden Demonstration von Selbstbeherrschung notierte Keaton die Koordinaten, schloss seinen Transportauftrag ab und kehrte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurück. Was er schließlich entdecken sollte, war der Sprungpunkt, der in das Charon-System führt.
Die UPE beanspruchte das System und sandte ein Scanteam von der Government Cartography Agency (Regierungskartografieagentur, dem Vorläufer des ICC) aus. Das Terraforming von Charon III begann nahezu unverzüglich, doch die Abgelegenheit des Systems verhinderte seine Entwicklung zu einem Zentrum für Handel und Verkehr. Jene, die sich entschlossen, das System zu besiedeln, waren üblicherweise an einem schlichten Leben interessiert und sahen Charons Isolation als Vorteil. Doch die Messers hatten mit dieser Isolation des Systems etwas anderes im Sinn.
Über die Generationen hinweg brachten die Messers und ihre Politik eine Vielzahl an Feinden, Dissidenten, Aktivisten und Revolutionäre hervor. Sie begriffen, dass eine Mischung dieser politischen Häftlinge in den regulären Strafvollzug nur die Kriminellen radikalisieren und den Dissidenten Zugang zu kriminellem Wissen verschaffen würde. Die Messers entschlossen sich also, ein enormes Gefängnisnetzwerk auf Charon III zu errichten – viele dieser Gefängnisse im Staat Dellin – und stellten loyale Regierungsmitarbeiter für dessen Administration an. Unter Anwohnern gingen Horrorgeschichten über die Zustände in den Gefängnissen um, doch sie lernten schnell die Angelegenheit nicht öffentlich anzusprechen. Örtliche Amtsträger, die der Sache nachgingen, wurden zum Schweigen gebracht oder für Verbrechen angeklagt, welche sie in eben diese Gefängnisse beförderten.
Als die Messers im Jahr 2792 gestürzt wurden, feierten Menschen auf dem gesamten Planeten und die lokale Bevölkerung verschaffte sich gewaltsam Zutritt zu den Gefängnissen. Was sie vorfanden und dokumentierten, schockierte einen jeden und wurde zu einem integralen Bestandteil des Berichts der Truth and Reconciliation Commission (Kommission für Wahrheit und Versöhnung) von 2806, welche die Schrecken des Messer-Regimes aufdeckte. Außerdem fanden hiesige Amtsträger während ihrer Untersuchungen heraus, dass ihre Senatoren nicht nur von den Gräueltaten gewusst, sondern sogar von ihnen profitiert hatten. Das Messer-Regime hatte zusätzliche Ressourcen nach Dellin geleitet, wo die meisten der Gefängnisse ihren Standort hatten, und beeinflusste sogar Wahlen von korrupten Senatskandidaten, die ihm gelegen waren.
Senatorin Constance Winterfield wurde der Korruption angeklagt und entmachtet. Der Gouverneursrat sollte eine vorübergehende Vertretung bestimmen, doch heftige Flügelkämpfe und politische Manöver verzögerten jedwede Entscheidung. Der Senatssitz von Charon III blieb auf Jahre unbesetzt, bis Constance Winterfields theoretische Amtszeit endete. Zu diesem Zeitpunkt waren viele Bewohner aber bereits zu der Auffassung gelangt, dass Charon III ohne Senator und einer UEE, die dem Planeten ihren Willen aufdrückte, besser dran war. Im Jahr 2795 stimmte die Bevölkerung von Charon III dafür, sich aus dem Senat zurückzuziehen – bis heute das einzige Mal in der Geschichte, dass ein Planet diesen Weg eingeschlagen ist.
Ohne einen Fürsprecher auf der Erde verringerten sich die Fördermittel der Regierung für das System deutlich, da die politische Elite der UEE entschlossen war, zu demonstrieren, dass ein Rücktritt aus dem Senat mit Konsequenzen verbunden war. Als die Fördermittel schließlich mit großem Schaden an den lokalen Wirtschaften – insbesondere in Dellin – versiegten, brachte der erbitterte Freigeist, der die Menschen inspiriert hatte, der UEE die Stirn zu bieten, sie nun gegeneinander auf. Ständige Konflikte zwischen politischen Fraktionen verhärteten sich mit der Zeit nur und ein Regieren des Planeten wurde praktisch unmöglich. Jedweder Versuch, den Gouverneursrat zu reformieren und sich erneut für einen Senatssitz zu bewerben, blieb bis hierhin erfolglos.
Heute definiert sich das System hauptsächlich über den blutigen und verheerenden Bürgerkrieg, der auf Charon III zwischen den Staaten Dellin und seinem Nachbarn Acheron wütet. Im System herrscht nur geringfügiger regulärer Handelsverkehr und Handelsschiffe können unter Beschuss geraten, wenn sie in die Atmosphäre von Charon III eintauchen. Aufgrund dieser bedauerlichen Situation und dem Fehlen von anderen bewohnbaren Orten innerhalb des Systems rät der Galactic Guide Reisenden, das Charon-System zu meiden, sofern ein Betreten nicht absolut notwendig ist.