The Lost Generation Episode 4



Tonya führte Melvin Hartley Jr. zum Essen aus. Der alte Mann sah so aus, als würde es ihm guttun. Im Gegenzug war er gerne bereit, alles, was er über die Bank wusste, mit ihr zu teilen. Eines der älteren Institute in der UEE, die Nebula Bank, gab Hartleys Urgroßmutter ihren ersten Kredit, um das Museum zu eröffnen. Seither hat sich die Bank zu einem Finanzriesen entwickelt und wurde im Laufe der Jahrzehnte immer skrupelloser. Nun, so schien es, besaß Nebula rechtlich gesehen die Artemis-Relikte, die vom Hartley Museum erworben worden waren.

„Glauben Sie mir, der Bankangestellte war von meinem Kreditantrag nicht sehr begeistert“, sagte Melvin, während er auf eine Tasse Tee blies, um sie abzukühlen. „Aber da das Museum ein langjähriger Bestandskunde ist, waren ihm die Hände gebunden. Deshalb waren sie auch so unnachgiebig, absolut unnachgiebig, als ich eine Zahlung nicht leisten konnte. Eine einzige Zahlung.“

Tonya nickte, während sie zuhörte. Es war schwer, für diesen Mann kein Mitleid zu empfinden. Vielleicht hatte er einen Hang zur Theatralik, doch selbst sie konnte erkennen, dass er das Museum aufrichtig liebte. Ein solcher Grad an Verzweiflung ist kaum zu übersehen. Sie wünschte sich, sie hätte die richtigen Worte für ihn. Sehr wahrscheinlich würde er das Museum verlieren. Ihm ihr Mitleid zu bekunden, schien ihr trivial und überflüssig. Hartley kannte sie nicht, warum sollte ihr Mitleid ihm etwas bedeuten? Es ist ja nicht so, als ob ihr gemeinsames Bedauern eine finanzielle Lösung herbeizaubern konnte. Also was soll‘s?

Sie ließ es also bleiben. Ihr Gegenüber saß nur still da und blies auf seinen Tee, bevor er schließlich einen Schluck nahm.

Hartley dankte ihr für das Mahl und begab sich zurück zum Museum. Tonya sah ihm dabei zu, wie er die Straße hinunterschlurfte und dann hinter einer Ecke verschwand. Dann richtete sie ihren Fokus auf Nebula.

Die Bank war ein Obelisk aus Metall und Glas. Allein auf dem Weg zur Lobby entdeckte sie 16 Vorrichtungen, die ein unberechtigtes Eindringen in das Gebäude verhindern sollten. Es gab Kameras, Bewegungssensoren, Wärmebildkameras, Mikrofone im Boden und Ladestationen für Nanodrohnen, die in jede Glasscheibe eingelassen waren. Und das war nur die Lobby. Ihr Kopf schmerze bei dem Gedanken an die Sicherheitsmaßnahmen im Tresorraum.

„Guten Tag, Frau Oriel“, sagte ein junger Mann in den frühen Zwanzigern, der ihr entgegenkam. Sie müssen hier ebenfalls Retinascanner haben. „Kann ich Sie für ein günstiges Sparkonto interessieren?“

„Sicher”, lächelte Tonya. Der Bankangestellte führte sie durch ein Labyrinth aus kleinen quadratischen Arbeitsplätzen zu seinem winzigen Büro und setzte sich. Er begann mit seiner Verkaufsmasche, indem er die verschiedenen Spar- und Transaktionskonten der Bank miteinander verglich und die Anzahl der Nebula-Filialen anpries. Tonya ließ das meiste zum einen Ohr rein- und dem anderen wieder rausgehen, bemerkte jedoch, dass ihre Servicegebühren unglaublich hoch waren. Sie war mehr darauf konzentriert, ihre eigenen Daten zu sammeln. Dem Bildschirm des Bankangestellten nach zu urteilen, nutze die Bank ein „Kraken Network“ – ein recht kompliziertes System mit einer Vielfalt an Sicherheitsfeatures, allerdings zum größten Teil Open Source. Die Systeme der Mitarbeiter waren nicht durch Fingerabdruck- oder Retinascans gesichert.

„Also können wir Sie als Kunde gewinnen?“ Er lächelte ausdruckslos.

„Dies ist eine wichtige finanzielle Entscheidung. Es geht immerhin um meine Zukunft, nicht wahr?“ Tonya stand auf und gab ihr Bestes, einen überlegten Gesichtsausdruck zu zeigen. „Ich werde mir das noch mal genau durch den Kopf gehen lassen müssen.“

„Aber…“

Tonya ging Richtung Ausgang. In ihrer Annahme, sie könne in die Bank einbrechen, war sie etwas voreilig gewesen. Je mehr sie sah, desto weniger hielt sie von ihren Chancen.

Draußen angekommen, kontaktierte sie einen von Gavin Arlingtons unzähligen Assistenten und plädierte dafür, die Artefakte direkt von der Bank zu erwerben. Der Assistent war kurz angebunden, aber freundlich. Er würde ihre Bitte an Arlington weiterleiten und sie kontaktieren, wenn es Antwort gäbe.

Zurück auf der Beacon II, begann Tonya, sich in Nebulas Netzwerke einzuklinken. Nichts Ernstes, nur ein paar Vorstöße, um die Reaktionszeit zu testen. Es tat zwar wenig, um ihre Befürchtungen zu mindern, doch fand sie etwas Interessantes, während sie sich die Updates für die öffentlichen Anteilseigner ansah:

Die Nebula Bank hielt eine Mehrheitsbeteiligung an dem Unternehmen Public Reclamations, einem örtlichen Lagerhaus. Es war eine interessante Spur, die dadurch weiter an Attraktivität gewann, als Tonya herausfand, dass sie sich auf Wiederinbesitznahmen und Immobilienbestände spezialisiert hatten.

Ihre Sicherheitsmaßnahmen waren grottig. Tonya benötigte weniger als eine Stunde, um Zugang zu ihrem internen Netzwerk zu erhalten. Sie startete mithilfe von Hartleys Aktenzeichen eine Suche und wurde fündig. In ihrem Lager in Kensington lagerten sechs Kisten. Fünftes Stockwerk. Parzelle #45ZB.

Plötzlich schien Tonyas Plan wieder durchführbar.

Unglücklicherweise waren die Sicherheitsvorkehrungen des Lagers von Public Reclamations nicht so schwach wie bei ihrem Netzwerk. Ein Blick auf die Architektur vom Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes offenbarte patrouillierende Wachleute, sichtbare Kameras und alarmgesicherte Fenster. Das Gebäude selbst war ein enormer Würfel, der isoliert in der Mitte des Blocks stand. Es würde nicht einfach werden, insbesondere für einen selbsterklärten Hobbyeinbrecher wie Tonya.

Allerdings schien der Chef keine vertrauensselige Person zu sein, denn Tonya fand einen Remote-Zugriff auf ein separates Kamerasystem, das die Angestellten im Blick haben zu schien. Sie übertrug den Zugang zum Netzwerk von ihrem MobiGlas auf das HUD ihrer Brille. Nun konnte sie zwischen den patrouillierenden Wachleuten, der Sicherheitszentrale und sogar dem Aufenthaltsraum der Mitarbeiter hin- und herwechseln. Zwar konnte sie noch immer nicht die Sicherheitssysteme des Gebäudes manipulieren, aber es war besser als gar nichts.

Tonya verließ das Lagerhaus, um sich ihre Requisiten zu holen.

Eine Stunde später landete sie die Beacon II auf dem privaten Landeplatz. Ein Verkaufsberater begrüßte sie bereits, während ihr Antrieb noch herunterfuhr.

„Hallo, kann ich etwas für Sie tun?“ Dieser Berater war sogar noch heiterer als der letzte.

„Jupp, ich benötige etwas Lagerraum.“ Tonya sah sich auf dem Grundstück um, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Sie gab ihr Bestes, um diesen alten Frachtpiloten zu imitieren, den sie beim Torchlight Express kennengelernt hatte. „Das ist doch euer Geschäft, oder?“

„So steht’s auf dem Schild“, lachte der Berater nervös. Tonyas Gesicht blieb unbeeindruckt. Er unterdrückte jedes weitere Kichern. „Ja, das ist richtig.“

„Gut. Ich habe 4,78 metrische Tonnen nicht näher bezeichnetes Frachtgut, das ich abladen muss. Habt ihr so viel Platz?“

„Sicher, diese Einrichtung ist ausgerichtet für –“

„Ja, ich weiß nicht. Ich muss mir das erst mal angucken.“

“Selbstverständlich. Folgen Sie mir.” Der Berater führte sie hinein.

„Habt ihr etwas im fünften Stockwerk frei?“ Tonya machte sich einen Überblick über die Überwachungskameras. Der Berater stammelte für einen Moment und prüfte dann sein MobiGlas.

„Ähm, haben wir, doch auf den unteren Stockwerken sind ebenfalls Lagereinheiten verfügbar.“

„Na ja, meiner Erfahrung nach sind bei einem Einbruch zunächst die unteren Stockwerke betroffen.“

„Ich kann Ihnen versichern, die Sicherheit ist bei uns gewährleistet.“

„Daran habe ich keinen Zweifel, dennoch soll’s das Fünfte sein.“

Der Vertreter nahm sie mit in das fünfte Stockwerk, während er unablässig seine Verkaufsmasche durchzog. Er führte sie durch die engen Gänge, die allesamt durch die gleichen flachen Leuchten erhellt wurden. Sie gingen an zwei gewaltigen Rolltoren vorbei. Ein daneben angebrachter Bildschirm listete eine Reihe von Parzellennummern auf, einschließlich Hartleys. Diese musste zu Nebula gehören.

Tonya hielt am danebenliegenden kleinen Lagerraum an.  Der Verschlussmechanismus war nicht aktiviert. Sie schaute auf und den Gang hinunter. Dort entdeckte sie zwei Kameras, die auf Nebulas Lagereinheit gerichtet waren und deren Sichtbereich überlappte sich nicht einmal. Sie konnte sich unter eine stellen, ohne von der anderen gesehen zu werden.

„Ist diese Einheit frei?” Sie tippte auf die Anzeige und das Tor öffnete sich. Der Berater war bereits ein paar Schritte vorgegangen.

„Ja, meine Dame“, sagte er, während er zurückeilte. „Ich denke aber nicht, dass sie für Ihre Bedürfnisse groß genug sein wird.“

Tonya betrat den kleinen, verstaubten Raum und sah sich um.

„Das sollte gehen.“

„Ich –“

„Ich weiß, wie ihr arbeitet, ihr versucht mir Stauraum anzudrehen, den ich gar nicht brauche.“ Der Berater war im Begriff, ihr zu widersprechen, gab dann aber nach, um das Geschäft nicht aufs Spiel zu setzen. So langsam hatte Tonya bei dieser Manipulations-Sache den dreh raus.

Eine Monatsmiete im Voraus und ein ausgedachter Name waren genug, dass der Berater ihr mehrfach dankte und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Tonya ging zurück zu ihrem Schiff. Sie lud ein Paar Kisten auf ihren Schwebestapler und ging hinein. In ihrem Lagerraum angekommen, öffnete sie die Kisten. Abgesehen von Einbruchswerkzeug und ihrem MobiGlas waren sie leer.

Sie überprüfte den Feed der Sicherheitszentrale. Die Wachen unterhielten sich mit dem Verkaufsberater, der so tat, als hätte er den Verkauf des Jahrhunderts gemacht.

Wieder draußen, befestigte sie ihr MobiGlas an einen ausfahrbaren Stab und machte ein Bild des Blickfeldes der näherliegenden Kamera auf das Lager. Sie transferierte das Bild zu einem kleinen, tragbaren Bildschirm. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Wachen noch immer abgelenkt waren, platzierte sie das Foto ungeniert Zentimeter vor der Kamera. Der Feed auf dem Monitor verdunkelte sich, während die Belichtungskorrektur sich neu einstellte, aber letztendlich ausbalancierte.

Die Wachen bekamen davon nichts mit. Tonya wiederholte die Prozedur für die zweite Kamera. Dann umging sie den Schließmechanismus und innerhalb von zehn Minuten öffnete sich das Tor.

Nebulas Lagerfläche belegte den Rest der Etage. Es war ein Labyrinth aus wieder in Besitz genommenen Antiquitäten und Mobiliar.

Tonya manövrierte den Schwebestapler durch die engen Gassen, während sie die Nummern der Lagereinheiten überprüfte. Schließlich fand sie Hartleys Sammlung von Artemis-Relikten, die gestapelt und in Folie eingewickelt waren.

Sie sah nach den Wachleuten. Diese lachten leise über etwas mit dem Verkaufsberater. Sie zerschnitt die Folie, verlud die Boxen auf den Stapler und versiegelte sie in ihren Frachtkisten.

Als sie sich über den Landeplatz zur Beacon II bewegte, kam der Verkaufsberater angerannt.

„Ist alles in Ordnung?“, rief er.

„Ja, du hattest recht, mein Zeug passt nicht rein.“

„Wollen Sie einen alternativen –“

„Nein Danke, ich werde mir einen anderen Lagerplatz suchen.”

„Aber…“

Tonya schloss das Frachttor und ging zum Cockpit. Der Antrieb fuhr hoch und sie hob ab, während ein sehr verwirrter Verkaufsberater auf dem Landeplatz zurückblieb.

Während die Erde hinter ihr schnell an Größe verlor, setzte Tonya ihren Kurs und schaute sich an, was Hartley erworben hatte. Vorsichtig öffnete sie die Boxen; sie würde alles sorgfältiger katalogisieren, wenn sie Zeit dazu hatte, doch es schienen zum größten Teil Transskripte des Starts und vorläufige Designs zu sein, bevor sie fündig wurde.

Dem Aussehen nach zu urteilen war es ein veraltetes Laufwerk, das in einem stoßfesten, luftdichten Archiv-Behälter eingeschlossen war. Doch sie wusste, es war Janus. Eine Originalkopie der Navigations-KI der Artemis.

Tonya genoss den Moment. Lange sollte er aber nicht anhalten, da ihre unersättliche Neugierde, die sie antrieb, ein weiteres Mal entbrannte.

Sie entstaubte ein altes System, das mit dem Janus-Laufwerk kompatibel war. Bevor sie jedoch auch nur daran denken konnte, Janus zu aktivieren, musste sie sicherstellen, dass das Host-System nicht direkt mit ihrem Schiff oder irgendetwas anderem außer Strom verbunden war. Das Letze, das sie jetzt gebrauchen konnte, war eine KI, die in ihrem Navigationscomputer ihr Unwesen trieb.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, nahm Tonya einen tiefen Atemzug. Sie öffnete den Archiv-Behälter mit dem Janus-Laufwerk. Es schien keinen Tag gealtert zu sein, seitdem es verpackt wurde. Tonya machte sich über die Kabel einen Überblick und steckte diese in das System ein.

Ein drittes Mal überprüfte sie die Verbindungen.

Ihr Finger schwebte über der Power-Taste des Janus-Laufwerks.

„Dann wollen wir mal“, murmelte sie …

… und betätigte diese.

Zur nächsten Episode geht es hier entlang.

Übersetzung:  Malu23   Korrrektur:  alreadytaken   Originaltext