The Lost Generation Episode 10



Die Luftschleuse in Nagias Schiff summte, als der Druckausgleich begann. Tonya erhielt einen guten Blick auf die andere Luftschleuse, jene, mithilfe derer er versucht hatte, die Beacon II zu entern.

Die Beacon II … Tonya blickte aus dem kleinen Fenster auf die zwei Hälften ihres Schiffes, die im Nichts trieben. Sie würde sich über eine Beacon III Gedanken machen müssen.

Die Tür der Luftschleuse öffnete sich und es kamen Nagia, einer seiner Gangmitglieder und zwei Lasergewehre zum Vorschein, die auf sie gerichtet waren.

„Ist das nicht eine freudige Überraschung“, sagte Tonya, während sie ihre Hände hochnahm. „Ich bin etwas enttäuscht, Nagia, am Sprungpunkt einen Hinterhalt zu legen, sollte selbst unter deiner Würde sein.“ Nagias Handlanger legte sie in Handschellen, ohne jedoch ihren Anzug auszuziehen. Sie blickte ihn über ihre Schulter an. „Macht‘s dir was aus, meine Sauerstoffversorgung auf Außenluft zu schalten? Das Zeug ist nicht billig.“

Der Handlanger schaute sie einen Moment bedrohlich an.

„Ich finde dich nicht lustig“, sagte er schließlich. Er zog sie zu einem Stuhl und verband ihre Handschellen mit einem Haken an der Wand.

„Deine Leute scheinen mich nicht sonderlich zu mögen“, sagte Tonya zu Nagia.

„Lem ist einfach nur enthusiastisch.“ Nagia setzte sich in den Pilotensitz und übernahm die Kontrolle. „Turov wollte mit dir ein Wort wechseln, bevor wir dich umlegen.“

Der Handlanger, Lem, hielt seine Waffe im Anschlag und seine Augen fest auf sie gerichtet.

Tonya lehnte sich zurück und versuchte es sich gemütlich zu machen. Es würde ein langer Flug werden.

Die anderen Schergen, die für Nagia arbeiteten, nahmen für den Weg nach Kallis IX eine lose Formation hinter seinem Schiff ein.

In dem System herrschte reger Betrieb. Vermessungsteams und Schiffe, die in der Lage waren, Tiefenscans durchzugführen, umkreisten die anderen acht Planeten. Senzen Turov muss wirklich von den primitiven Zeichnungen auf Oso beeindruckt gewesen sein, um so viele Ressourcen auf dieses System zu verwenden. Tonya hatte keine Ahnung, wo Senzen einen orbitalen Bergbaulaser herbekommen hatte, aber da war er und machte chirurgische Einschnitte in die Wolken des kleinen Planeten. Sie würde gerne mit ansehen, wie er dies den Behörden erklären würde, die nicht von ihm geschmiert worden waren.

So wie Oso war auch dies ein System, das sich in der Entwicklung befand, und rechtlich war jedwede Art von Vermessung oder Bergbauaktivität verboten. Er musste darauf bauen, dass die Entdeckung der Artemis jeden Politiker dazu bewegen würde, ein Auge zuzudrücken.

Nagia tauchte in die Atmosphäre ab geriet in einen Schneesturm. Das Schiff wurde durchgeschüttelt, als es durch stürmische Wolken flog. Als sie endlich den ersten Blick auf die Oberfläche des Planeten freigaben, offenbarte sich eine schier endlose vereiste Tundra. Entlang des Horizonts stießen Kryovulkane riesige Wolken aus gefrorener Magma in die Luft.

Das Schiff ging in den Sinkflug und durchflog dabei unberechenbare Winde, die selbst Nagias robustes Schiff umherschüttelten wie ein Spielzeug. Tonya konnte erkennen, dass sich kleine Bergarbeiterteams an jedem der Löcher positioniert hatten, die vom Laser in das Eis gebohrt worden waren. Sie stellten schwebende Scanner-Bojen auf und ließen sie die Schächte hinunter.

„Kann Senzen nicht einfach an Bord kommen, um seine Häme loszuwerden? Es hasse die Kälte.“

Nagia lachte. Lem blieb unbeeindruckt und starrte sie einfach an.

Schließlich war das Schiff gelandet. Nagia und Lem zogen sich ihre Anzüge an und brachten Tonya in die Luftschleuse. Die äußere Tür öffnete sich mit einem Zischen und es blies eine Böe aus Eis und Schnee in den Vorraum. Das HUD ihres Überlebensanzuges zeigte die Zusammensetzung der Atmosphäre an – etwas Sauerstoff, hauptsächlich Ammoniak – bevor es Tonya hilfreicherweise davor warnte, ihren Anzug auszuziehen.

Mit einem kurzen Stoß des Gewehrlaufes traten sie hinaus. Lem trennte sich von der Gruppe und bohrte Löcher in das Eis, um Hacken zu befestigen, die ein Rutschen des Schiffes verhindern sollten. Jede Chance, Nagia zu überwältigen, solange er alleine war, verschwand, als der Rest seiner Bande aus dem Schneegestöber zum Vorschein kam, das sie umgab. Zumindest hatten sie ihr die Handschellen abgenommen.

Während sie durch den Schnee stapften, überprüfte Nagia laufend seinen Scanner, um die richtige Richtung beizubehalten. Tonya konnte das Licht von entfernten Laserstrahlen in den Wolken glühen sehen. Das war aber auch alles, was sie sehen konnte; das Schneegestöber war unbarmherzig geworden und der Lärm der Sturmböen war ohrenbetäubend. Sie musste die Empfindlichkeit ihrer externen Mikrofone herunterstellen.

Dann ließ das Unwetter plötzlich nach. Tonya, Nagia und der Rest der Gang hielten inne und blickten einander verblüfft an. Nagia zuckte mit den Schultern und ging weiter.

Nun, da der Schneesturm sich gelegt hatte, führte sie Nagias MobiGlas zu einem kleinen Bergarbeiterteam, das den Scan eines kürzlich gebohrten Schachtes vorbereitete.

„Turov!,” rief Nagia. Senzen drehte sich um, als sie näherkamen. Er gab einige Befehle in sein MobiGlas ein, bevor er aufschaute. Die Scanner begannen den Abstieg auf ihrer Schwebplattform.

„Hey Tonya“, grüßte sie Senzen in einem fast enttäuschten Ton. „Ich bin etwas überrascht, dass es dir so schnell gelungen ist, der UEE zu entkommen.“

„Übrigens vielen Dank, dass du sie auf mich aufmerksam gemacht hast.“

„Hey, ich war besorgt, was diese Osoianer mit dir anstellen würden. Ich dachte, ich würde dir einen Gefallen tun.“

„Ja, da bin ich mir sicher.“

Senzen seufzte und blickte sie für einen Moment an.

“Ich weiß nicht, was wir mit dir machen sollten”, sagte er kopfschüttelnd. „Ich würde es vorziehen, dich nicht zu töten, aber du machst es mit wirklich nicht einfach.“ Er hielt inne und dachte ein paar Sekunden nach. „Ich schätze, wir könnten dich für ein paar Monate in Cryostasis versetzen.“

„Du hast gesagt –“, begann Nagia zu protestieren.

„Ich sagte dir, ihr Tod wäre Verhandlungssache“, fiel ihm Senzen ins Wort. „Entspann dich, du wirst in jedem Fall bezahlt.“

Nagia biss sich auf die Zunge und schmorte. Senzen wandte sich wieder Tonya zu und dachte noch etwas nach. Schließlich zuckte er mit den Schultern und warf seine Hände in die Luft.

„Tut mir leid, Tonya, mir fällt kein Grund ein, dich am Leben zu lassen.“  Er drehte sich zu Nagia. „Sie gehört dir.“

Das war nicht gut. Nagia grinste. Einer seiner Handlanger ergriff ihren Arm.

„Warte, wenn du mich tötest, verlierst du deine beste Chance, das nächste Stück der Artemis zu finden.” Tonya riss sich vom Nagias Handlanger los. Er versuchte, nach ihr zu greifen, aber Senzen bedeutete ihm mit einer Handbewegung, innezuhalten. Tonya fuhr fort: „Du bist sicher neugierig, wie ich es nach Oso geschafft habe.“

Tonya konnte sehen, dass sie richtig lag. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob Janus Nagias Angriff überstanden hatte, doch es war ihre einzige Chance. Da sich Janus während ihrer Flucht von der Militärstation bewiesen hatte, hatte er vielleicht eine gute Idee, wie sie aus dieser Situation herauskommen konnte.

„Sprich“, sagte Senzen schließlich. Sie wusste, sie hatte seine Neugierde geweckt und musste die Sache nun nur noch eintüten.

„Ich habe Janus.“

„Wie?”, fragte er nach einer kurzen Pause. Er konnte die brennende Neugierde in seinen Augen nicht verbergen.

„Ich bin an eine Kopie des Originalprogramms gelangt und habe sie dann durch eine Simulation des Artemis-Fluges laufen lassen. Das Ergebnis war nicht exakt, hat mich aber nach Oso geführt. Wir haben bereits erörtert, was die Besatzung wohl auf Kallis gemacht …“ Tonya dachte sich diesen Teil aus, doch sie wusste, dass ­–

„Nein.“

Tonya stotterte für einen Moment.

„Wie?“

“Nein, Tonya”, wiederholte sich Senzen. „Selbst wenn das wahr ist, versuchst du dich damit nur herauszuwinden. In der Vergangenheit wäre ich vielleicht darauf eingegangen, in der Annahme, ich würde deinen zwangsläufigen Trick antizipieren können. Aber nicht dieses Mal, ich beiße nicht an.“

Tonya blieb still. Das war gar nicht gut. Ihre Gedanken rasten auf der Suche nach einer Alternative.

„Das wird dir noch leidtun, Senzen“, war alles, was ihr in diesem Moment einfiel und sie sagte es, als wäre sie Teil eines schlechten Films.

„Ja, vielleicht, aber ich traue meinen Scans.“ Senzen tippte auf sein MobiGlas, gab Nagia ein Nicken und wandte sich um. Der Pirat trat einen Schritt an sie heran und zog seine Waffe. Tonya ergriff Senzen und drehte ihn, so dass er ihr als Schild fungierte.

Nagia und seine Schergen begannen zu lachen.

“Also wirklich, Tonya”, sagte Senzen“, was soll das bringen?”

„Halt die Klappe.“

„Du solltest auf ihn hören, T.“ Nagia lud seine Waffe auf. Der Rest der Gang verteilte sich, um jedwede Möglichkeit einer Flucht zu verhindern. „Du hast keine Waffe und kannst nirgendwohin entkommen.“

Sie hatten Unrecht, es gab eine Fluchtmöglichkeit.

Tonya griff Senzens MobiGlas, stieß ihn zu Nagia herüber und sprang in den Schacht.

Für einige Sekunden war sie im freien Fall, bevor sie in einen der Schwebescanner krachte. Ihre Hände versuchten verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten, als ihr Körper über die Kante rutschte.

Eine Nanosekunde bevor sie gefallen wäre, gelang es ihr, sich an einem Griff festhalten. Tonya sah hinauf. Sie konnte sehen, wie Gestalten sich um den Schachteingang versammelten und hinabschauten. Trotz des starken Windes konnte sie Senzen schreien hören.

Die Plattform sank weiter den Schacht hinunter, während automatische Kompensatoren das zusätzliche Gewicht ausglichen. Sie kletterte an ihr hoch und sah sich um. Die Scanner durchdrangen eine Eisschicht nach der anderen. Sie konnte ein Netzwerk von Spalten sehen, das sich vor ihr erstreckte.

Ein Lasergeschoss sauste an ihr vorbei. Tonya konnte sehen, wie Gestalten damit begannen, sich den Schacht abzuseilen und dabei fluchten.

Ein Geschoss traf die Plattform. Das ganze Ding taumelte zur Seite und hat Schwierigkeiten, sich wieder auszubalancieren. Tonya konnte einige Meter unter ihr eine der Lücken in der Eiswand erkennen, die breit genug war, um sich durch sie hindurchzuzwängen. Sie überprüfte Senzens MobiGlas. Die Steuerung der Plattform war noch immer geöffnet.

Sie verlangsamte die Plattform und sprang in die Lücke, kurz bevor eine weitere Salve die Plattform durchsiebte. Diese gab schließlich den Geist auf und polterte in die Dunkelheit.

Tonya zwängte sich durch die enge Spalte im Eis. Etwas weiter voraus war diese mit einem größeren Höhlensystem verbunden. Durch die Spalte hinter ihr hallte ein Aufschrei. Jemand fluchte, während er sich an der Öffnung herunterseilte.

Sie ließ sich in den Tunnel fallen und sah sich um. Ein paar tausend Meter entfernt brannte sich ein Strahl vom orbitalen Laser durch das Eis und erhellte den gesamten Bereich.

Tonya prüfte Senzens MobiGlas. Neben der Steuerung für die zerstörte Scanplattform erstellte ein Programm ein Kompositbild mithilfe der Scans des Planeten. Eis-Anomalien wurden isoliert und katalogisiert, aber es stellte ihr auch eine grobe Karte des Tunnelsystems zur Verfügung, das sich unter dem Eis gebildet hatte.

Sie wusste, diese Karte würde sich als überaus wertvoll erweisen, doch Nagia hatte Senzen über dessen MobiGlas gefunden, sie musste also davon ausgehen, dass er dazu immer noch in der Lage war. Sie hatte also eine Wahl: Sie konnte die Karte nutzen, jedoch mit der Gefahr, von Nagia aufgespührt zu werden oder blindlinks durch das Höhlensystem wandern und vielleicht in eine Senkgrube laufen.

Die Geräusche, die vom Loch in der Decke kamen, beschleunigten ihre Entscheidung. Sie behielt das MobiGlas und nahm die Beine in die Hand.

Sie hörte, wie sich jemand durch das Loch in der Decke zwängte und in den Tunnel fiel.

“Tonya!”, rief Senzen,  wütender als sie ihn jemals erlebt hatte. Er gab einen Schuss ab. Der verfehlte sie und schmolz ein Loch in die Wand aus Eis.

Als das Licht des Lasers erlosch, wurde es dunkel um sie herum. Tonya aktivierte ihre Stirnleuchte und rannte weiter. Sie prüfte das MobiGlas, um sicherzugehen, nicht in einen Abgrund zu stürzen.

Sie rannte und rutschte durch die unförmigen Korridore. Senzens Schritte hallten hinter ihr.

Tonya blickte zurück; dem hüpfenden Licht auf seinem Kopf zu urteilen, war er etwa 30 Meter von ihr entfernt. Auch konnte sie die flackernden Lichter von Nagias Gang durch die Eiswand erkennen. Sie schienen größere Probleme mit dem glatten Boden zu haben.

Senzens MobiGlas fing an, leise zu summen. Tonya überprüfte es, während sie rannte. Sie näherte sich einer der Anomalien, die von den Scans isoliert worden waren. In diesem Moment lief sie gegen eine Wand.

Der Aufschlag riss sie von den Beinen. Sie schlug auf dem Boden auf und schlitterte ein paar Meter. Für einen Moment verschwamm ihre Sicht. Das MobiGlas schlitterte ein Stück weiter. Bis Tonya sich orientiert hatte, stand Senzen bereits über ihr.

„Verdammt noch mal, Tonya…“, keuchte er, während er nach Luft schnappte. Er hob seine Waffe.

Der orbitale Laser schlug erneut in die Oberfläche ein, bohrte ein weiteres Loch und erhellte den Tunnel. Und plötzlich sah Tonya etwas hinter Senzen verschlossen im Eis.

Senzen konnte das Staunen in ihrem Gesicht sehen. Zunächst zögerte er, trat dann aber einen Schritt zurück, um zu sehen, was sie erblickt hatte.

Es war ein Körper. Inmitten seiner Bewegung im Eis eingefroren. Erhellt durch das reflektierende Laserlicht sah er surreal aus. Wer auch immer es war, es sah so aus, als wäre er in Sekundenbruchteilen gefroren; vielleicht wurde er von einer Eruption eines Kryovulkans überrascht. Was auch immer geschehen war, der Haltung und den geschlossenen Augen nach zu urteilen, wusste er, was auf ihn zukam.

Tonya stand auf, ging hinüber und vergaß dabei völlig die Gefahr, die von Senzen ausging. Der Körper war menschlich oder zumindest menschenähnlich. Da war ein Kopf, zwei Arme, zwei Beine. Die Haut war hellgrau, nahezu marmorfarben. Ein dunkles, beinahe schwarzes Netzwerk war unter der Haut zu erkennen. Es sah fast aus wie Schaltkreise, die parallel zum Nervensystem verliefen. Es könnten Tattoos gewesen sein. Tonya konnte es nicht sagen.

Sie hatte keine Ahnung, was sie vor sich hatte.

Senzen stellte sich neben sie, ebenfalls mit vor Staunen geöffnetem Mund.

„Sieh dir diese Kleidung an“, murmelte er mit einem Nicken.

Tonya lehnte sich vor. In den dunklen, ausgefranzten Überresten eines Hemdes war ein eingestanztes Wort gerade noch erkennbar.

Kenlo.

Tonyas Herz machte einen Sprung. Sie hätte vor Begeisterung weinen können. Nach fast 700 Jahren erblickte sie ein Besatzungsmitglied der Artemis.

Plötzlich wurde der Tunnel durch ein seismisches Beben stark erschüttert. Tonya und Senzen rutschten hin und her und versuchten, ihre Balance zu halten. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Beben auch wieder. Sie sahen einander an. Dann eine weitere Erschütterung, gewaltiger als die Vorherige.

„Das ist nicht gut”, sagte Senzen leise.

„Wer hätte gedacht, dass es nicht die schlauste Idee ist, Löcher in einen Planeten zu schießen.“

„Wir müssen den Körper hier rausschaffen.“ Senzen aktivierte sein Comm. „Nagia, wo bist du?“ Stille. “Nagia!”

Tonya versuchte sich aufrecht zu halten. Sie musste mit ansehen, wie überall im Eis enorme Risse entstanden. Etwas weiter weg verschoben sich Eisblöcke gegeneinander und zerfielen.

„Das ganze Ding stürzt ein“, sagte Tonya. Ein Laserschuss war zu hören.

Senzen beachtete sie nicht. Er versuchte Kenlo mit seinem Lasergewehr aus dem Eis zu lösen. Doch es funktionierte nicht.

„Steh da nicht einfach nur rum, hilf mir.“

„Wir müssen hier verschwinden!“ Tonya konnte ihren eigenen Worten kaum glauben. Alles wofür sie gearbeitet hatte, eine beispiellose Errungenschaft war nur Meter von ihr entfernt. Es war eine Pracht, ein Vermächtnis, das im Eis eingeschlossen war. In Wirklichkeit aber war es der Tod. Sie konnten nicht herankommen, es nicht mitnehmen. Es würde sie nur mit in den Abgrund reißen. Sie begann, das zu begreifen.

Senzens Lasergewehr schoss mit voller Kraft. Ein weiterer gewaltiger Stoß des Planeten ließ einen Strom aus Gas und Dampf in den Tunnel strömen.

Tonya taumelte herum, in dem Versuch, die Balance zu halten, und trat in eine Pfütze. Das Eis begann zu schmelzen.

“Der Laser hat den Kern erreicht, wir müssen abhauen, und zwar jetzt!” Sie griff seinen Arm und versuchte ihn wegzuziehen. Senzen stieß Tonya von sich. Sie fiel zu Boden und rutsche ein Stück.

„Was ist mit dir los, Tonya?“, fragte er in einem fast wahnsinnigen Ton. Senzen feuerte weiter, bis das Gewehr eine Pause benötigte, um sich neu aufzuladen. „Das ist die Entdeckung des Jahrhunderts. Es gibt nichts Wichtigeres. Ich wäre verrückt, wenn ich mir diese Chance entgehen lassen würde.“

„Du musst loslassen!“

„Loslassen?” Er schüttelte seinen Kopf. „LOSLASSEN?” Wie von Sinnen hämmerte er mit dem Gewehrkolben auf das Eis ein und riss Brocken mit den Händen heraus.

Der Boden knackte plötzlich und gab nach. Senzen verschwand in einem Strom aus Dampf im dunklen Abgrund.

Tonya starrte für einen Moment fassungslos in die Dunkelheit. Als sie aufschaute, realisierte sie, dass die letzte Erschütterung ebenfalls Kenlos Körper aus seinem eisigen Grab befreit hatte. Er lag auf seiner Seite und taute auf.

Vielleicht könnte sie ihn sich schnappen und an die Oberfläche tragen. Diese Gedanken ließen ihr rationales Denken aussetzen und lockten sie ein weiteres Mal mit der Aussicht auf Ruhm und Vermächtnis. Alles, was sie tun musste, war über die Kluft zu springen, die Senzen in die Tiefe gerissen hatte…

Tonya bemerkte, dass Kenlo sie ansah. Seine blassen blauen Augen waren direkt auf sie gerichtet. Er sah überrascht aus, verblüfft. Genau dies muss ihr Gesichtsausdruck gewesen sein, das erste Mal, als sie ihn sah. Seine Lippen schienen ein Wort zu bilden.

„Lauf.”

Seine Augen schlossen sich. Der Körper ruhte.

Tonya ließ ihn zurück und rannte davon.

Sie lief geradezu auf Autopilot durch die einstürzenden Tunnel und sich verschiebenden Spalten. Sie war wie betäubt von dem, was sie gerade erlebt hatte. Später konnte sie sich kaum daran erinnern, wie sie zur Oberfläche geklettert war und ein Transportschiff der Bergarbeiter auf sich aufmerksam gemacht hatte.

Erst als das Transportschiff von Kallis IX abhob und sie vom Weltall aus auf die stürmischen Wolken herabsah, versuchte sie zu begreifen, was geschehen war.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie keine Antwort.

Erde, Sol-System

2 Monate später, Standard-Erdenzeit

Melvin Hartly Jr. stapfte aufgeregt durch die Lobby des Museums. Mit Staubwedel und Mopp war er auf der Jagd nach jedem bisschen Schmutz, dass er bei seiner gründlichen Reinigung übersehen hatte.

Eine Uhr erklang. Hartley räusperte sich und ließ sein Auge ein letztes Mal über den Raum schweifen. Er verstaute die Reinigungsutensilien im Abstellraum und prüfte den Sitz seines Anzuges in einem nahegelegenen Spiegel.

„Gut, gut“, sagte er mit dem charakteristischen Lächeln eines Entertainers. Mit Stolz erfüllter Brust schritt er zur Tür. Seine Schuhe quietschten auf dem Marmorboden.

Er drückte einen Knopf am Eingang. Ein Banner entrollte sich automatisch im Eingangsbereich mit dem Schriftzug: Die Artemis – eine neue Entdeckung. Präsentiert von Shubin Interstellar.

Als er es zum tausendsten Mal las, zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht und er öffnete die Türen.

Eine Menschenmenge wartete draußen. Erwachsene, Kinder, Reporter und Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft warteten gespannt darauf, sich durch den Eingang zu zwängen und sich für ein Ticket anzustellen.

Tonya sah Hartley dabei zu, wie er Tickets verkaufte. Sie hatte mit Gavin Arlington einen Deal ausgehandelt, das Artemis-Artefakt von Stanton in Hartleys Museum auszustellen.

Hartley erkannte sie in der Menge. Mit Tränen in den Augen nickte er ihr zu.

Tonya lächelte und nickte zurück.

Kallis-System

Zwei Wochen später, Standard-Erdenzeit

Die zwei Hälften der Beacon II trudelten im All. Tonya sah sich das Wrack vom Cockpit der Beacon III aus an, die sie sich dank ihrer großzügigen Versicherungspolice leisten konnte.

Die Spur war kalt. Sie war zu Kallis IX zurückgekehrt, um nach Kenlo oder anderen Anzeichen der Artemis zu scannen, hatte jedoch keinen Erfolg. Als sie Arlington ihren Abschlussbericht gab, erwähnte sie Kenlos Körper nicht. Er würde ihr nicht glauben. Niemand würde das. Sie konnte es ja selbst kaum glauben.

Das hieß jedoch lediglich, dass sie kreativ werden und nach anderen Hinweisen suchen müsste. Sie mussten irgendwo dort draußen zu finden sein und sie würde nicht aufhören nach ihnen zu suchen.

Eine Nachricht erschien auf einem ihrer Bildschirme. Transfer vollständig. Tonya lehnte sich in ihren Sitz zurück und wartete.

„Hallo Tonya“, sagte Janus über die Lautsprecher.

„Willkommen zurück.“

„Danke.“ Pause. „Hast du ein Reiseziel?”

„Aber klar.” Tonya gab den Kurs in den Navigationscomputer ein.

„Verstanden“, sagte Janus. Das System begann mit der Aktivierungssequenz und hielt dann inne. „Möchten Sie das Steuer übernehmen?“

Tonya überlegte einen Moment lang.

„Nein, mach du nur.“

Ende

Übersetzung:  Malu23   Korrektur:  alreadytaken   Originaltext