Collision Course: Episode 2



Radu Ghazi legte sich in die Koje und ließ die Matratze sich seiner Form anpassen. Er war von dem Halt, die sie ihm gab, beeindruckt. Die meisten Schiffsdesigner scherten sich nicht um die Festigkeit ihrer Matratzen. Sie schienen all ihr Geld und ihre Aufmerksamkeit in die attraktiveren Aspekte der Schiffe zu stecken: den Rumpf, die Waffen, die Triebwerke. Dies waren die Marketingschwerpunkte – eine Bezeichnung, die er mal in Prime aufgeschnappt hatte, in irgendeiner hochklassigen Bar, in der er eigentlich fehl am Platz war. Diese Unternehmen schienen nicht zu begreifen, dass eine gemütliche Matratze einem genauso das Leben retten konnte wie ein gepanzerter Rumpf, wenn man monatelang mit seinem Schiff unterwegs war.

Der Aufzug der Luftschleuse zischte und öffnete sich. Ein kleiner Mann in einem teuren, aber schlecht sitzenden Pilotenanzug kam auf dem Aufzug in der Nähe der Kojen zum Vorschein. Der Mann wendete sich Radu zu.

Radu feuerte seine Pistole ab. Das Lasergeschoss durchschlug die Gesichtsblende des kleinen Mannes und drang in seinen Kopf ein. Er sackte zu Boden und war bewegungslos. Eine schmale Rauchschwade stieg von der Wunde empor.

Radu stieg aus der Koje, zerrte die Leiche vom Lift und machte einen Rundgang durch das Innere der Constellation. Sobald er genug Credits hat, würde er sich vielleicht auch eine kaufen.

Er betätigte den Abwärtsknopf des Aufzuges. Die Plattform wackelte leicht und fuhr hinab.

Draußen war die Sonne von Daymar gerade im Begriff aufzugehen. Staubteilchen tanzten im Licht der Morgendämmerung. Radu überquerte die Landeplattform und behielt dabei die dunklen Gebäude im Blick, die um den Außenpostenkomplex verteilt waren.

Seiner Aufklärung zufolge stand das Ziel (ihre Namen zu lernen, brachte ihn nur durcheinander) immer als Erstes auf. Er rechnete also nicht mit Zeugen, musste jedoch auf alles vorbereitet sein. Diese Art von Flexibilität hatte ihn bereits aus einigen ziemlich brenzligen Situationen gerettet.

Radu trottete zur zerklüfteten Höhe, hinter der er sein Schiff geparkt hatte. Geröll knirschte unter seinen Stiefeln, als er zum nahegelegensten Gebäude zurückblickte. Ein verblasstes Logo der Rayari Inc. war unter dem klimabedingten Dreck kaum noch zu erkennen. Das Unternehmen wurde im Spectrum von Zeit zu Zeit erwähnt, doch hatte er keine Ahnung, was ihr Geschäft war und schon gar nicht, was sie hier draußen verloren hatten.

Was muss man verbrochen haben, um hierher verbannt zu werden, frage sich Radu, während er den Hügel hochkletterte. Die Geschichten zu ergründen, wie Menschen an den Ort gelangt waren, an dem sie sich gerade befanden, war eines seiner liebsten Hobbies. Sechs Jahre in der Miliz von Bremen, wo es ein Kommen und Gehen gab, boten ihm reichlich Gelegenheit, Menschen zu beobachten. Das lag allerdings schon sehr weit in der Vergangenheit.

Oben angekommen, führte er einen gründlichen Scan des Außenpostens durch, um sicherzugehen, dass er niemanden aufgeschreckt hatte. Das Licht von Stantons Stern hatte nun den Horizont überschritten. Auf dem Mond war alles ruhig

Radu blickte zurück zur Constellation, die auf der Landeplattform wartete, und fragte sich kurz, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand die Leiche entdeckt, die er im Schiff zurückgelassen hatte. Dann drehte er sich um und ging hinunter zu seinem Schiff. Die alte Gladius hatte seinem Vater gehört, es war das gleiche Modell, das sein alter Herr während seines Militärdienstes geflogen hatte. Radu und sein Vater hatten es auf einer Zwangsversteigerung erworben und zwei Jahre damit verbracht, es wieder in Schuss zu bringen. Als Radu der Miliz beitrat, übergab sein Vater das Schiff an ihn.

Einem Moment darauf, nachdem das Leuchten seiner Triebwerke nicht mehr vom Sternenhimmel zu unterscheiden war, war auf dem Außenposten wieder Ruhe eingekehrt.

Bis Radu das Innere der Station Grim HEX erreicht hatte, waren die Credits bereits auf seinem Account eingegangen. Die zentrale Drehscheibe der heruntergekommenen Station war von dem flimmernden Licht der enormen Leinwand durchflutet, die sich über ihm auftürmte. Einst von der Stationsverwaltung dazu verwendet, um Neuigkeiten, Arbeitsgelegenheiten, Werbung, lokale Events usw. zu verlautbaren, zeigte sie heute nichts weiter als einen Mix aus digitalem Rauschen, fragmentierten Bildern und dem gelegentlichen Nine-Tails-Symbol.

Er verstand nicht, warum diese Gruppe von Gesetzlosen das Bedürfnis verspürte, die Anzeigen für sich zu vereinnahmen. Es ist ja nicht so, als gäbe es irgendeinen Zweifel daran, wer hier jetzt das Sagen hatte. Sich umblickend, zählte er acht gepanzerte Gangster, die mit Abzeichen der Nine Tails herumliefen, voll ausgerüstet und auf der Suche nach Ärger.

Ein Junkie rannte aus einem nahegelegenen, verwaisten Geschäft, in dem fieberhaften Erregungszustand, der direkt auf einen gesetzten Schuss folgte. Radu ging ihm aus dem Weg und sah ihn in einem der sich windenden Gänge verschwinden. Allerdings war er nicht der Einzige, der dem Junkie nachschaute. Radu bemerkte, wie ihn zwei Hausbesetzer in zerlumpter, ölbefleckter Kleidung anstarrten. Ihre Hände zuckten sporadisch. Sie schienen darauf zu warten, ob Radu dem Junkie hinterherlaufen würde. Als Radu sich wegdrehte, schlichen sie ihrem Opfer hinterher.

Ol‘ 38 war ziemlich leer, also konnte sich Radu an das Ende der Bar setzen. Der bittere, alte Mann stand heute nicht hinter dem Tresen, es war dieser Junge, der so aussah, als wäre er nur einen schlechten Tag von dem Junkie entfernt, den Radu gerade gesehen hatte.

„Was darf‘s sein?“, fragte er, während er ein schmutziges Glas polierte.

Der Junge nickte und begann langsam, den Drink zu mixen. Radu beobachtete ihn, wie er jede einzelne Flache durchging, bis er den billigen Gin gefunden hatte. Dann durchsuchte er drei Gefrierschränke, bevor er endlich eine Dose Pips in den Händen hielt. Der Mixvorgang schien für ihn sogar noch rätselhafter.

Schließlich stellte der Junge das Glas, das vorwiegend Gin enthielt, vor Radu.

„Lass mich wissen, ob das so okay ist“, sagte er mit einem Hauch von Hoffnung.

Radu nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Es war eine Menge Gin.

„Passt schon.“

Der junge Barmann grinste, gab ihm ein Daumen hoch und zog sich dann zurück, um weitere Gläser zu „säubern“.

Radu holte sein mobi hervor und überflog die Schlagzeilen des Spectrums. Doch es war nur das Übliche: Angst und Geld – die zwei Motoren, welche die gesamte Menschheit anzutreiben schienen.

„Hey Kumpel.“

Radu blickte von seinem mobi auf. Diese Stimme war unverwechselbar. Madrigal war ein zweitklassiger Gangster der NovaRiders. Gerüchten zufolge war Madrigal zuvor beim ZAS, der zivilen Abteilung von Hurstons Sicherheitsdienst, wurde jedoch entlassen, weil er zu gewalttätig war. Das Eintreiben von Geld war seine Spezialität, was Radu unglücklicherweise auf sein Radar brachte. Zwei seiner Schläger warteten an der Tür, mutmaßlich, um Radu an einer Flucht zu hindern.

“Hey Ayrs”, sagte Madrigal, als er sich auf den Sitz neben Radu setze. „Gib mir einen Rust.“

Der Junge hinter der Bar lächelte und brauchte wieder eine halbe Ewigkeit, um die richtige Flasche zu finden.

In der Zwischenzeit seufzte Madrigal theatralisch und wandte sich Radu zu, der die ganze Zeit über einfach nach vorne starrte.

„Wie ich höre, hast du was für mich.“

„Ach ja?“, erwiderte Radu und nahm einen Schluck von seinem Drink. Das Eis hatte dem Gin etwas den Biss genommen. Oder vielleicht war es die aufsteigende Wut…

“Ich habe von einer Person erfahren, die es wiederum von einer anderen Person erfahren hat, dass du gerade einen Auftrag von der endgültigen Sorte erledigt hast“. Madrigal starrte Radu mit einem selbstgefälligen Grinsen an. „Ich meine, du weißt ja, was für ein sozialer Mensch ich bin. All die Freunde, die ich habe.“

Radu blieb still. Madrigal beobachtete ihn.

„Ich warte“, sagte er schließlich.

„Die Credits sind gerade erst reingekommen. Ich hätte sie gleich überwiesen.“ Radu holte sein mobi hervor und sendete das Geld an das Scheinkonto, das die NovaRiders für ihre Schuldeintreibung eingerichtet hatten. Er musste mit ansehen, wie sein Konto in den zweistelligen Bereich fiel.

„Gut, wirklich gut.“ Ayrs brachte ein Glas Rust. Madrigal kippte es sofort runter und überprüfte sein mobi. Er sah nicht beeindruckt aus. „Da scheint mir etwas zu fehlen.“

“Das haben sie mir gezahlt.” Radu nahm einen weiteren Schluck. „Wenn dir die Bezahlung nicht gefällt, dann beschwer dich bei denen.“

Madrigal packte Radu am Nacken und knallte seinen Kopf auf die Theke. Jeder in der Bar sprang bei dem Geräusch auf, doch niemand tat etwas. Der junge Barmann drehte sich weg, um mehr Gläser zum Putzen zu finden.

„Lass uns einen Moment innehalten und rekapitulieren. Du schuldest uns Geld, also gehörst du uns. Du weigerst dich zu zahlen? Du versuchst abzuhauen? Du stirbst. Du hast ein Problem damit? Vielleicht hättest du vorher darüber nachdenken sollen, was du tust. Also achte auf deinen verdammten Ton, wenn du mit mir sprichst. Du bist am Leben, weil du nützlich bist, und glaube mir, das kann sich ganz schnell ändern.“ Plötzlich war das selbstgefällige Grinsen wieder da. „Alles klar, schön, dass wir das ausdiskutieren konnten. Du hast noch zwei Tage, um uns für diesen Monat zu bezahlen. Ich bin mir sicher, dass du das schon irgendwie hinbekommen wirst.“

Madrigal nahm sich Radus Glas und kippte auch dieses hinunter.

„Danke für den Drink.“

Madrigal drehte sich um und ging. Niemand sah ihn an, als er aus der Bar spazierte. Die zwei muskelbepackten Typen an der Tür folgen ihm.

Radu setzte sich auf. Ein Moment verging, bis der junge Barmann herbeispazierte, als wäre nichts geschehen.

„Noch einen?“

Radu schüttelte den Kopf und rief stattdessen die Stellenanzeigen in seinem mobi auf. Als er die beliebigen und anonymen Jobs überflog, die auf den lokalen Servern zu finden waren, sprang ihn eine Schlagzeile geradezu an.

„Ich hab’s vermasselt“, las er.

Der Job schien einfach genug zu sein: Holen Sie einen Navigationscomputer aus einem Wrack und geben Sie ihn zur Löschung ab. Die Bezahlung war auch gut, doch da war noch etwas. Das Angebot war mit einer Verzweiflung geschrieben, die er nachempfinden konnte.

Er nahm den Auftrag an. Kurz darauf erhielt sein mobi alle relevanten Daten.

Radu machte einen Abstecher zu seinem EZHab, um seinen Pilotenanzug und seine Waffen zu holen. Speed-Grind-Musik donnerte durch die Wand auf der einen Seite. Die starke Verzerrung und der treibende Rhythmus überdeckten beinahe den lautstarken Streit, der von der anderen Seite zu hören war.

Er zog seine Brustpanzerung an und befestigte sie, als er plötzlich innehielt. Radu sackte auf die Kante seines Bettes nieder und sah sich den winzigen Raum an, der sein „Zuhause“ geworden war. Er vergegenwärtigte sich all der kleinen Details – die tagealten Essenscontainer, die sich in der Ecke stapelten, die alten Blutflecken an den Wänden – er sah sich alles an, als würde er es zum ersten Mal sehen.

Die Last der letzten sechs Monate drohte ihn zu erdrücken. Er konnte sich kaum noch selbst erkennen. Wie konnte er sich nur so stark von dem entfernt haben, der er wirklich war?

All die Schuldgefühle, die Frustration und Wut schwirrten ihm im Kopf umher, bis sich schließlich ein einzelner Gedanke an die Oberfläche kämpfe: „Es ist Zeit, sich zu ändern.“

Er würde diesen Auftrag erledigen. Was auch immer nötig war, um sich bis zur nächsten Rate etwas Atemluft zu verschaffen. Doch würde er diese Zeit nutzen, um sich aus dem Staub zu machen, um einen Weg zu finden, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die ihm langsam die Luft abschnitt.

So oder so, er würde frei sein, entschied Radu.

Radu bahnte sich seinen Weg durch die Korridore von Grim HEX in Richtung seines Schiffes, an Hausbesetzern, Killern der Nine Tails und den kaputten, leckgeschlagenen Türen vorbei, aus denen die Atmosphäre entwich.

Außerhalb der Luftschleuse, die zu seiner Landeplattform führte, zog Madrigal eine weitere bemitleidenswerte Person ab. Radu betätigte den Knopf der Luftschleuse und wartete. Madrigal nahm schließlich Notiz von ihm.

„Guten Flug“, rief er mit einem Grinsen.

Die Luftschleuse beendete ihren Zyklus und die Türen zischten, als sie sich öffneten. Radu ging hinein und betätigte den Knopf. Als sich die äußere Tür endlich öffnete, gab sie den Blick auf sein Schiff preis.

Er verstaute die Gewehre und kletterte in den Pilotensitz. Die Kanzel hatte Probleme, sich zu schließen, während er verschiedene Schiffssysteme aktivierte. Die Multidisplays erwachten, während die Triebwerke begannen zu dröhnen. Radu gab etwas Aufwärtsschub und fühlte, wie das Fahrwerk von der Landplattform abhob. Er suchte nach einer freien Flugbahn. Der Raum um Grim HEX herum war berüchtigt für faule Kriminelle, die es auf einfache Abschüsse von Piloten abgesehen hatten, die dachten, sie wären in „Sicherheit“.

Schnell abheben, schnell abhauen war die Devise. Radu erkannte eine freie Flugbahn, die ihn aus dem Asteroidengürtel rausbringen würde, und feuerte seine Triebwerke. Die G-Kräfte trafen seine Brust, als sein Schiff die Station hinter sich ließ.

Der leichte Jäger bahnte sich mühelos seinen Weg durch die gewaltigen Asteroiden, während er langsam durch die Leere tanzte. Die Scans zeigten zwar nichts an, aber Radu blickte sich selbst um, um mögliche Angreifer zu identifizieren, die sich mit geringer EM-Signatur anzuschleichen versuchten. Überzeugt, dass er allein war, gab er die Koordinaten seines Auftrags ein. Sein Ziel befand sich innerhalb des Asteroidengürtels um Yela, jedoch auf der anderen Seite des Mondes. Er musste ihn also mit seinem Quantenantrieb umkreisen, bevor er eine direkte Route hatte.

Nachdem der orbitale Marker angewählt war, kam der Quantenantrieb auf Touren und Radus Blickfeld wurde unscharf. Das ihn umgebende Stanton-System verschwamm um ihn herum, bis der Antrieb ihn automatisch aus dem Quantenflug ausspuckte. Er richtete sein Schiff auf den nächsten Marker aus und aktivierte abermals den Quantenantrieb.

Kurze Zeit später flog er in den Asteroidengürtel in Richtung seiner Koordinaten. Die Scans zeigten nichts an, doch Radu verlangsamte dennoch sein Schiff. Er wollte nicht in einen Hinterhalt geraten, falls der Auftrag auch anderen Piloten gegeben wurde. Und tatsächlich begann er, verstreute Wrackteile zu sehen, die ihn zum zerstörten Wrack einer Connie führten.

Er startete einen ausgedehnten Scan des Areals um das Wrack, um sicherzugehen, dass er wirklich alleine war.

Und da sah er die heruntergekommene Buccaneer, deren Scheinwerfer das Wrack erleuchteten, während kein Pilot zu sehen war.

Verdammt, dachte er sich. Ich wollte heute wirklich niemanden töten müssen.

Hier geht es zu Episode 3.

Übersetzung:  Malu23   Korrekturlesung:  alreadytaken   Originaltext