A Human Perspective Episode 9



Heimat, Mutter, die Armee, Judy …

Freude, Verlust, Reue, Verachtung …

Gesichter und Gefühle, Orte und Sehnsüchte …

Die Gesamtheit von Charls Lebenserfahrungen kam ungewollt aus den Tiefen zum Vorschein, als der Verstandabsauger der Banu seine Erinnerungen aufwühlte. Der fremdartigen Neuraltechnologie und zahllosen entspannenden Injektionen hilflos ausgeliefert, erlebte Charl es aus der Ferne, wie ein geisterhafter Zeuge der chaotischen Träume eines anderen.

Während dies vor sich ging, nahm er so gut wie nichts von dem wahr, was um ihn herum passierte. Auf einer elementaren Ebene – vielleicht war es sein Selbsterhaltungstrieb – sehnte er sich nach einem Reiz außerhalb seines aufgewühlten Verstandes. Für eine lange Zeit erhielt er keine Linderung, doch schließlich bemerkte er, dass der Prozess seine Höhen und Tiefen hatte. Wie ein Fisch im Meer tauchte er für eine Weile in die Tiefen hinab und kam dann näher an die Oberfläche, an der er gerade so die Sonne und den Himmel über sich erblicken konnte.

Seiner eigenen Wahrnehmung und selbst seines eigenen Verstandes unsicher, konzentrierte er sich im Kampf gegen die Wellen von ungebetenen Erinnerungen und zwang sich bei jedem Aufstieg näher und näher an die Oberfläche.

Formen und Töne.

Tiefer in das Dunkel hinuntergezogen, stürzte Charl dem Licht entgegen.

Gesichter und Stimmen.

Emotional ausgelaugt, brachte er seine letzten Kraftreserven auf.

„Charl-Grissom erlangen Bewusstsein.“ Charl blinzelte mehrere Male und seine Sicht war wie durch einen Nebel getrübt. Er röchelte ein wenig, und das brachte ihn auf eine Idee. Er zwang sich dazu, immer stärker und stärker zu röcheln, was ihn nicht nur dem Bewusstsein näherbrachte, sondern ebenso die Aufmerksamkeit der Banu-Techniker erweckte.

„Charl-Grissom in Not“, sagte einer, während er näherkam. Charl täuschte ein tiefes, kratzendes Röcheln vor und spannte sich an, als ob er keine Luft mehr bekommen würde, während er sich verzweifelt aus seinen Gurten zu winden versuchte. „Charl-Grissom Erstickungsgefahr!“

Der Banu-Techniker begann damit, ihn loszuschnallen, also intensivierte er sein Schauspiel. Der einzige andere Techniker kam mit eine Spritze hinüber – etwa um ihn zu beruhigen, fragte er sich? Ein Gurt war gelöst, dann ein weiterer. In dem Moment, in dem sein Arm frei war, griff Charl unbeholfen nach dem Techniker, der die Spritze in der Hand hielt, und es gelang ihm, diese in seiner Kehle zu versenken. Der Banu gurgelte und fiel zu Boden. Bis der zweite Techniker begriffen hatte, was los war, fummelte Charl bereits an seinen anderen Gurten herum.

„Alarm!“ Der Techniker versuchte ihn festzuhalten und die beiden rangen, bis es Charl gelang, einen Gurt um den Hals des Banu zu legen und diesen fest zuzuziehen. Der Techniker wandte sich, konnte jedoch nicht schreien, und nach einem Moment ließ Charl sein verschwommenes Opfer leblos zu Boden fallen. Seine Zeit beim Militär lag bereits lange in der Vergangenheit, doch scheinbar hatte sich sein Körper seine Disziplin bewahrt.

Er war nun allein und schüttelte seinen Kopf, um einen klaren Verstand zu bekommen. Er löste Gurt um Gurt, bis er frei war. Unfähig zu stehen, ließ er sich auf den Boden fallen und kroch voran, um sein Ohr an die Tür zu legen. Da er nichts hören konnte, öffnete er sie und streckte seinen Kopf in einen leeren Gang. Er schleppte sich schnell in einen offenen Nassraum auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges und schloss dessen Tür hinter sich.

Denke nach, Charl. Denke nach! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich von dem simplen Verlangen, zu überleben, leiten lassen. Nun erschwerte sein vernebelter Verstand ein organisierteres Planen. Er warf seine Handflächen an seine Schläfen und rieb diese kräftig.

„Was zum…“ Charl erblickte sich selbst in einem Spiegel. Er riss die Kappe von seinem rasierten Kopf, an der noch immer Kabel hingen, die er aus dem Verstandabsauger der Banu herausgerissen haben musste. Er war blass, ausgemergelt und trug eine hauchdünne Robe. Wie lange hatten sie mich bewusstlos gehalten?

Vage Erinnerungen kamen zu ihm zurück. Die Mission, die Banu, die ihn angeheuert hatten, sogar der Android. Charl kämpfte mit sich, ihnen Namen zuzuweisen, doch jeder Gedanke flitzte davon, wie ein Hase, der nach seinem Loch suchte. Ihm lief es kalt den Rücken hinunter. Hatten sie seinen Verstand ruiniert, fragte er sich? Ekel erfasste sein ganzes Wesen. Denk nach! Er stammelte unsinnig vor sich hin, seine Entdeckung, aber noch viel mehr einen geraubten Verstand fürchtend.

„Die … die … ähm …“, kämpfte er mit sich, während er auf dem Boden des Nassraumes zitterte. „Komm schon … die … die Reacher!“ Er verschnaufte. „Ja“, dachte er, „mein Schiff ist die Reacher! Und der Android war … ähm … Angela!“ Ekstatisch über diese einfachen Erinnerungen fiel er erleichtert zu Boden, doch war diese Erleichterung nur von kurzer Dauer.

„Alarm! Charl-Grissom entkommen!“ Aufgeregte Stimmen sammelten sich im Gang und er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis jemand im Nassraum nachsah. Charl wischte sich den Schweiß von seiner Braue und zwang sich, aufzustehen. Seine Beine waren schwach und er musste sich praktisch am Waschbecken hochhangeln, um sich aufzurichten. Doch am Ende stand er. Weitere Rufe waren zu hören und ein elektronischer Alarm plärrte laut durch die orbitale Einrichtung.

„Untersuche Nassraum…“ Die Tür öffnete sich und Charl zog den gelbbekittelten Techniker an seiner Kehle hinein, während er die Tür schnell hinter ihm schloss. Er knallte den Kopf des Banu gegen die Wand und zwang ihn zu Boden, indem er ihm hörbar sein Genick brach. Diese Schweinehunde! Sie hatten ihn zu einem Mörder gemacht. Ein schneller Dreh und er hatte seinem Opfer den Laborkittel ausgezogen und quetschte sich in die engen Ärmel. Ich werde niemals als Banu durchgehen, dachte er, aber immer noch besser als halbnackt herumzulaufen.

Seine einzige Hoffnung war, von der Station zu entkommen. Jede menschliche Station verfügte über Rettungskapseln und er war sich ziemlich sicher, dass die Banu dem gleichen Sicherheitsprotokoll folgten. Sobald er diesen Ort verlassen hatte, konnte er seinen Flugkünsten vertrauen, ihn von hier wegzubringen, doch eines nach dem anderen. Eine Anzeige mit dem Layout der Station wäre hilfreich, doch im Nassraum war nichts dieser Art zu finden. Er würde es in einem anderen Raum versuchen müssen, doch die enge Biegung der Wand verschaffte ihm den Eindruck, dass die Station gar nicht sonderlich groß war. Er richtete seinen Kiefer und knackste mit seinem Hals, lauschte für einen Moment still an der Tür und schoss dann heraus.

„Durchsucht diese Korridore!“ Charl hörte seine Verfolger in ihrer nativen Sprache. Einige Banu liefen durch die Gabelung zu seiner Linken, was ihn dazu zwang, seinen Kopf schnell wegzudrehen und geschwind auf die rechte Seite zu gehen. Um eine Ecke, dann um eine andere herum, hörte er weitere Stimmen und Schritte, die aus beiden Richtungen näherkamen. Er wählte die nächste Tür und sprang in den Raum.

„Wer zum Henker sind Sie?“

„Angela!“ Sie befand sich in einer Art Plexiglas-Habitat, umgeben von Arbeitsstationen und Überwachungsgeräten, doch die Techniker waren alle weg, wahrscheinlich um nach ihm zu suchen. Ihr Kopf war rasiert, doch konnte er ihr Gesicht und ihre Stimme nicht verwechseln.

„Was sind Sie, noch ein verdammter Roboter?“, fragte sie verächtlich und sein verwirrtes Gehirn kämpfte mit sich.

„Sie sind die echte Angela“, sagte er, nachdem er schnell eins und eins zusammengezählt hatte. Er konnte sehen, wie sie zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kam.

„Wer auch immer Sie sind, Sie sehen zu zerlumpt aus, um ein Android zu sein! Können Sie mich befreien?“ Sie näherte sich der Plexiglaswand, die sich zwischen ihnen befand, nahe genug, dass ihr Atem das Glas beschlug. „Ich habe schon ewig keinen anderen Menschen mehr gesehen!“ Dann überkamen sie ein zweites Mal Zweifel. „Sie arbeiten doch nicht für sie, oder?“ Mit diesen Worten trat sie wieder zurück und sah ihn besorgt an.

„Nicht freiwillig“, gab er halb zu und entschied, ihr seine Geschichte später zu erzählen, in der Annahme, dass es ein Später gab. „Ist das die Tür?“, fragte er und zeigte dabei auf eine hauchdünne Fuge im Plexiglas.

„Ja.“ Die echte Angela trat heran und ertastete deren Kontur mit ihrem Finger. „Sie bedienen sie von dieser Konsole dort drüben.“ Schritte ratterten durch den Gang und Charl bereitete sich darauf vor, deren Rache zu entgegnen. „Was ist los? Die Laborratten liefen vor ein paar Minuten alle davon.“

„Sie suchen nach mir“, sagte er, während er auf der Konsole herumtippte.

„Haben sie Ihren Verstand ebenso durchleuchtet?“, fragte sie seinen kahlen Kopf anschauend.

„Ja.“

„Keine Sorge, die Verwirrung ist nur temporär.“

„Danke, das ist beruhigend“, sagte er und sie lächelten sich leicht durch die durchsichtige Barriere an, bevor weitere laufende Schritte ihre Angst von neuem schürten.

„Bitte bringen Sie mich hier raus!“, flehte sie, während sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat und die Tür mit ihren Fingernägeln traktierte.

Die Steuerung war in der Computersprache der Banu, also würde jeder, der diese nicht lesen konnte, niemals in der Lage sein, die Tür zu öffnen. Doch er konnte sie lesen, und er tat es. Die Plexiglastür fuhr mit einem Zischen nach oben. Die echte Angela stand für einen Moment da, als könne sie es nicht glauben und trat dann aus ihrem Käfig heraus. „Sie wissen gar nicht, wie gut es ist, da raus zu sein. Was nun?“

„Wir müssen von diesem orbitalen…“

„Wir befinden uns im Orbit?“ Sie warf ihren Kopf fassungslos nach hinten.

„Das haben Sie nicht gewusst?“

„Wie sollte ich das wissen?“ Sehen Sie irgendwelche Fenster in meiner Glas-Wohnung? Und sie setzen mich die meiste Zeit unter Drogen.“

„Nun, wir befinden uns im Orbit, also brauchen wir eine Rettungskapsel oder etwas Ähnliches.“

„Versuchen Sie mal diese Arbeitsstation dort drüben“, schlug sie vor. „Vielleicht können wir dort einen Grundriss des Gebäudes einsehen. Beziehungsweise der Orbitalstation, schätze ich.“ Charl öffnete die Anzeige und klickte sich durch verschiedene Menüs.

„Was ist Ihre Geschichte?“ fragte er.

„Ich habe jemanden verärgert“, sagte sie nur.

„Willkommen im Klub“, erwiderte er und sie kicherte.

Ich war eine Journalistin, die im Auftrag von Torreele arbeitete. Sie sagten, ich hätte ihren Vertrag gebrochen oder irgend so einen Quatsch.“

„Das hört sich vertraut an. Ich hab’s … ja, na also!“ Charl hatte einige verständliche Pläne gefunden, die ihm zeigten, wo sie waren und wo sich scheinbar Rettungskapseln befanden. Er folgte der Route mit seinem Finger. „Okay, wir müssen ein paar Ebenen hinuntergehen. Lassen Sie uns abhauen!“

„Warten Sie! Kommen Sie her“, insistierte die echte Angela, griff seinen gelben Laborkittel und zog ihn für einen unerwarteten, feuchten Kuss zu sich heran. Mit offenem Mund. Er zog sie näher an sich, gerade als sie von ihm abließ.

„Okay, du bist echt.“

„Was meinst du…?“

„Androiden küssen komisch“, sagte sie einfach. „Lass uns gehen!“ Er entschied, dass er bis zu einem späteren Zeitpunkt warten könnte, um herauszufinden, woher sie das wusste. Wow!

Sie lauschten an der Tür und als sie nichts hörten, öffneten sie diese und schlichen hinaus in den Gang. Doch kaum waren sie um die erste Ecke, hörten sie eine vertraute Stimme hinter sich.

„Charl-Grissom, zweiter Vertragsbruch.“ Es war Techniker Zwei, flankiert von ein paar Banu-Sicherheitsleuten, die Lasergewehre in ihren Händen hielten. Die echte Angela schnaufte frustriert.

Fortsetzung folgt…

Autor: Timothy Brown

Übersetzung:  Malu23   Korrekturlesung: ius   Originaltext