A Ghost In The Dark

A Ghost In The Dark

 

Der geduldige Jäger hing in einer endlosen Dunkelheit. Die erdrückende Schwärze machte ihn unsichtbar. Um ihn herum erstreckte sich ein endloser Raum – durchflutet von Schwarz. Es schien, als ob der Weltraum verschwunden und nur noch ein tiefes Schwarz übriggeblieben war.
Ein riesiges Gebiet vom Licht verlassen.
Lichtjahre ohne Licht, ohne Jahre.
Nur Dunkelheit.

 

Es war ein existenzbedrohendes, alles verschlingendes Schwarz ohne Variationen und ohne Dunkelgrau. Ein Ort unendlicher und toter Traurigkeit. Verlassen vom lebendigen Licht weit entfernter Sterne. Quälende Einsamkeit, die den Tod ersehnte. Der Jäger befand sich am Rande einer gigantischen Dunkelwolke, die sich über Lichtjahre hinweg erstreckte.

Seit Tagen lag er in dieser ewigen Nacht still und heimlich auf der Lauer. Er saß in einer modifizierten Anvil Hornet Baujahr 2939 – auch Ghost genannt. Das Schiff war vollkommen mit diesem finsteren Ort verschmolzen. Die mattschwarze Oberfläche ihrer gedrungenen Flügel war eins mit ihrer Umgebung. Die scharfen Ecken und Kanten der schwalbenschwanzähnlichen Heckflügel waren hier nicht mehr existent. Der zwei Meter durchmessende, eckige Ring auf dem Dach verlor sich in diesem dunklen Nichts. Kein Lichtphoton spiegelte sich in den glasklaren Kanzelscheiben.

Als unsichtbarer schwarzer Schatten hing die Ghost in diesem unendlichen Schwarz und machte sie sich zu eigen. Dieses kleine, nur 24 Meter lange Raumschiff war ein militärischer Spezialaufklärer und jeder in the ’verse wusste um seine außerordentlichen Fähigkeiten. Ihren hochsensiblen Späherinstrumenten entging nichts. Für eine Ghost war sie alt. Das sagte alles über den Jäger aus, der hier seit nunmehr zwei Tagen ausharrte. Seine Ghost hing wie unsichtbar vor der gigantischen, schwarzen Wand der Dunkelwolke im unendlichen, weiten Raum.

Der geduldige Jäger war weit genug entfernt, damit seine Beute ihn nicht entdecken konnte. Und dennoch konnte der Jäger den Raum am Rand der Dunkelwolke gut beobachten. Das ausgefeilte Zielerfassungssystem der Ghost stammte aus den Laboren des UEE-Militärs und war allen anderen optischen Sensorsystemen überlegen.

Mit Hilfe des künstlichen Auges, das als ovaler, mattschwarzer Ball unter der Hornetnase hing, beobachtet der Jäger seit zwei Tagen den ausgeschlachteten Bengal-Carrier, der in rund eintausend Kilometer Entfernung als Warnboje seinen traurigen, letzten Dienst versah. Er war der unrühmliche Rest der USS Scott Childress VI, benannt nach dem Erfinder des Quantum Drives vor über 850 Jahren. Er war auch ein Überbleibsel einer gnadenlosen, aber historisch unwichtigen Schlacht mit einer Vanduulflotte, die hier vor siebzig Jahren gewütet hatte.

Der Jäger starrte in seinem abgedunkelten Cockpit auf die auf minimalste Helligkeit eingestellte Bildschirmanzeige. Sie hatte sich seit zwei Tagen nicht verändert. Der Jäger war dennoch hoch konzentriert. Das war das Ergebnis einer militärischen Ausbildung mit einem harten psychologischen Drill und jahrelangen Erfahrungen in Jagdmissionen. Eine unaufmerksame Sekunde konnte eine monatelang vorbereitete Mission zunichtemachen. Das war dem Jäger noch nie passiert. Und hier durfte es ihm nicht passieren. Diese Mission war die Wichtigste in seinem Leben. Die Beute war sehr scheu, sehr intelligent und hochgefährlich. Wochenlang hatte der Jäger diese Mission vorbereitet, nachdem er jahrelang ohne Erfolg gewesen war. Eine einzige Sekunde der Unachtsamkeit durfte es nicht geben.

Er schaute auf die Anzeige, atmete ein, zählte fünf Sekunden, atmete aus, zählte drei Sekunden. Immer auf das Hier und Jetzt fokussiert. Eine der vielen Atemübungen, die er gelernt hatte und welche die Konzentration hochhalten sollte. Er spannte seine Oberschenkelmuskeln und löste die Kontraktion wieder, dann die Unterschenkelmuskeln. Danach kreiste er zweimal mit seinen Füßen und krallte seine Zehen zusammen. Das war eine Methode, um den Blutkreislauf in Schwung zu halten und um Müdigkeit und Krämpfen vorzubeugen. Das machte der Jäger mehrmals am Tag mit allen Muskeln und Körperteilen, sofern es ihm seine sitzende Haltung gestattete. Es war wichtig, sich irgendwie zu beschäftigen, wenn man einsam und allein im Nichts auf der Lauer lag.

Der Jäger starrte aus der Dunkelwolke hinaus. Dieser Teil der Galaxie war piratenverseuchtes Gebiet. Nach dieser unbedeutenden Schlacht hatte sich die UEE aus diesem Gebiet zurückgezogen. Denn es gab hier kein Sonnensystem, das besiedelt werden konnte. Und die wenigen Asteroiden in der Umgebung waren es nicht wert, ausgebeutet zu werden. Darüber hinaus war die Dunkelwolke, die sich mehrere Lichtjahre in alle Richtungen erstreckte, wie eine gigantische, schwarze Mauer, hinter der sich das Ende des Universums zu befinden schien. Kein Raumschiff könnte diese Mauer jemals überwinden.

Dieses Gebiet war in allen Sternkatalogen dunkelviolett markiert. Hier herrschten keine Gesetze und keine Regeln. Nicht einmal ein Credo oder ein Piratenehrenwort. Geschweige denn die UEE. Dieses Gebiet war so gefährlich, dass sich nicht einmal die kleinen Möchtegernpiraten – die sogenannten Piranhas – hierher wagten. In diesem Teich schwammen wirklich nur die großen und ganz großen Haie. Hier fraß jeder jeden.

Auf der abgedunkelten Anzeige blitzte es ganz kurz auf. Ein Adrenalinstoß durchzuckte den Körper des Jägers. Aus dem Blitz erschien die lange, bullige Silhouette einer Freelancer.

Endlich – der Köder.

Der Pirat an der Bar lachte lauthals. Seine blonden Haare waren nach hinten gekämmt. Er sah gut aus, die Haut gesund und er führte einen Wohlstandsbauch vor sich her. Auch trug er einen teuren, dunkelbraunen Ledermantel, den er über einen teuren dreiteiligen Anzug gelegt hatte. Es waren nur Markenartikel. Auf seinen Schultern lagen schwere Edelmetallketten, in denen protzige Edelsteine eingelassen waren. Unter diesem teuren Schmuck trug der Edelpirat einen breiten Kreuzgurt, der wiederum die breite Lederkoppel um seine Hüften hielt. An Gurt und Koppel befanden sich genügend Mini-MGs und Energiewaffen samt Ersatzmagazinen, sodass niemand hier auf die Idee kommen könnte, ihn zu berauben. Seine beiden Begleiter an der Bar waren ähnlich reich bekleidet und mindestens genauso gut bewaffnet.

 

Hier in dieser engen, überfüllten Spelunke waren sie die Einzigen, die ihren Reichtum so zur Schau stellten. Die anderen Piraten, die an den zerkratzten und fleckigen Tischen saßen, waren von der Sorte, die von diesem Reichtum nur träumten. Doch ihre Träume waren nur genauso greifbar wie der kalte Stimsrauch, der unter der ergrauten Decke hing.

 

An der Wand gegenüber der Bar waren Schnüre gespannt, auf denen lange, animalische Zähne aufgereiht waren. Die ganze Wand war mit ihnen bedeckt. Es waren Reißzähne von Vanduuls, die man aus ihren Unterkiefern herausgebrochen hatte. Es hatte einen guten Grund, warum diese Piratenbar ‚Zum Zahnarzt’ hieß.

 

Akio Limbada Shaba saß an einem kleinen Tisch in einer unbeleuchteten Ecke und beobachtete aufmerksam die drei lachenden Halunken. Seine Augen waren dunkelbraun, aber das von feinen, schwarzen Äderchen durchzogene Weiße verriet, dass er schon mit der Witwe tanzte. Das war die gängige Umschreibung für die WiDoW-Sucht, die in der ganzen UEE verstanden wurde.

 

Die schwarzen Haare, die schon eine starke Tendenz zu Grau hatten, hingen speckig und ungepflegt an seinem hageren Gesicht herab. Tiefe Sorgenfalten im kreidebleichen Gesicht, das von schwarzen Linien durchzogen war, ließen den 28-jährigen Mann wie Mitte Vierzig aussehen. Spröde, farblose Lippen verbargen vergilbte Zähne mit schwarzen Rändern. Das einzig schöne an Akios Gesicht war seine gerade und elegante Nase. Sie hatte etwas Griechisches.

 

Dieses abstoßende Äußere verhinderte mit ziemlicher Sicherheit, dass er von den Piraten hier belästigt wurde. Denn er trug eine verdreckte, dunkelblaue Uniform der UEE. Noch mit Namensplakettchen und den Rangabzeichen eines Commanders. Er trug sogar seine Dogtags offen über der Uniform. Hätte Akio nur ein bisschen besser ausgesehen, wäre er nur tot in diese Kaschemme gelangt.

 

Die von schwarzen Adern durchzogene Hand des ehemaligen UEE-Piloten hielt ein nur ungenügsam gesäubertes Glas mit Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand. Die Ärmel der Uniform waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Auf dem rechten Unterarm prangte das Tattoo einer auf dem Kopf stehenden Ghost, das von einer grauen Aura umrahmt wurde. Darunter das Motto seiner alten Einheit: „Schatten der Nacht“.

 

Akio ließ die drei Piraten an der Bar nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Trotz dieser für ihn eigentlich tödlichen Umgebung spürte er Gelassenheit und Erleichterung. Er hatte vorhin seinen WiDoW-Vorrat bei einem Dealer aufgestockt und sich auch gleich ein Tänzchen gegönnt. Das euphorische Glücksgefühl, das ihm die Droge geschenkt hatte, klang allerdings schon wieder ab. Doch Akio war froh, dass er momentan keine hässlichen Entzugserscheinungen hatte. Das hier war wichtig. Er durfte keinen Fehler machen.

 

Während Akio die Piraten beobachtete, wuchs in ihm die intensive Anspannung des Jägers, der seine Beute belauerte. Er fühlte die heimliche Angst des Versagens. Aber auch die freudige Aufgeregtheit auf den kommenden Triumph. Er spürte ein leichtes Stechen in der Magengegend. Er verspannte wieder zu sehr. Mit offenen Augen kehrte er in sich, zog sich zu einem Ort zurück, der nur in seiner Phantasie existierte und an dem er sich beruhigen konnte. Akio entspannte sich und der stechende Schmerz verwand.

 

Das Gesicht seiner Schwester Ling tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ein kleines Baby von gerade einmal zwei Jahren. Akio hatte sie nie im Arm gehalten. Er hatte nur Fotos von ihr, die ihm seine Eltern geschickt hatten. Doch sie waren jetzt alle tot. Vor drei Jahren von der Bestie getötet, die er seitdem jagte: der CleaverReaper.

 

Akio zwang sich dazu, sich wieder auf seine Umgebung zu konzentrieren. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Seine drei Ziele standen immer noch an der Bar und tranken teuren Single Malt. Als original schottischer Whiskey angepriesen, dürfte es sich in dieser Absteige doch eher um eine zusammengepanschte Kopie handeln.

 

Der Jäger dachte an das beachtliche Kopfgeld, das auf diese Verbrecher hier ausgesetzt war. Rotten Bone, der dickliche Blonde, war die Nummer Zwei eines sehr erfolgreichen Piratenpacks aus dieser Gegend. Entsprechend sechsstellig sah die Prämie für ihn aus.

 

Akio interessierte sich jedoch mehr für dessen Boss Shining Eye. Denn dieser war auf der Jagdliste der Kopfgeldjägergilde die Nummer Zwei und besaß einen riesigen Einfluss in diesem Quadranten. Blondie hingegen war nur Mittel zum Zweck.

 

Der Ghostpilot nippte an seinem Wasser und holte einen kleinen Datenstick aus seiner Brusttasche. Der kleine Datenträger verschwand in seiner Faust. Auf ihm befand sich eine fingierte Korrespondenz zwischen Blondie und einem bekannten Infoagenten. Es machte den Anschein, als ob der Hehler eine ganz wichtige Nachricht zu verkaufen hatte. Er war offensichtlich bereit, sich mit Rotten Bone zu treffen. Allerdings sollte er allein zum Treffpunkt kommen. Ansonsten würde er nicht auftauchen.

 

Akio musste diesen Stick jetzt nur in Blondies Tasche bekommen.

 

Der Jäger stand auf. Er ging an voll besetzten Tischen vorbei. Die Piraten ignorierten ihn, nachdem sie erkannt hatten, dass er ein Witwentänzer war. Akio ignorierte sie ebenfalls. Er war nur auf sein Ziel fixiert. Die linke Manteltasche von Rotten Bone war leicht geöffnet. Perfekt, um den Stick unbemerkt hineingleiten zu lassen. Akio näherte sich von hinten. Die Nummer Zwei des Piratenpacks schien ihn nicht zu bemerken. Er leerte ein weiteres Glas in einem Zug.

 

‚Gut’, dachte sich Akio, ‚Das macht ihn unaufmerksam.’

 

Wenige Schritte noch, dann würde er ihm den Stick im Vorbeigehen in die Tasche stecken. Doch gerade in dem Moment, als der Datenträger aus seiner Hand glitt, drehte sich der Pirat um. Auge in Auge standen sie sich gegenüber.

 

Akio war perplex. Hatte er etwas gemerkt? Konnte er wirklich so schnell reagiert haben? Seine Rechte näherte sich langsam seinem Strahler.

 

„Was glotzt du so?“, rief der Pirat lallend.

„Ich will in eurem Rudel mitfliegen.“

„DU?“ Blondie schaute ihn überrascht an. Dann fing er an zu lachen.

„Du kannst mit deiner Witwe fliegen.“ Dann schubste er Akio so brutal nach hinten, dass er auf einen Tisch fiel. Gläser fielen um und deren flüssiger Inhalt ergoss sich über die umsitzenden Piraten.

 

Bevor Akio etwas unternehmen konnte, wurde er von kräftigen Händen gepackt und hochgezerrt. Er hörte Schreie und Beleidigungen. Dann spürte er den ersten Schlag in die Hüfte. Der Zweite traf seinen Kopf. Danach hörte er auf zu zählen.

 

Vor der Kneipe kam Akio wieder zu sich. Sein ganzer Körper schmerzte. Er lag auf dem Boden und Blut floss aus seiner Nase und seinem Mundwinkel. Einzelne Laternen beleuchteten erfolglos die dunkle Gasse. Die Nacht war kühl.

 

Akio richtete sich stöhnend auf. Seine Muskeln schrieen. Dennoch schaffte er es, sich aufzusetzen. Er griff schon in seine Innentasche, um sein Witwenbesteck herauszuholen. Er brauchte es jetzt, um die schrecklichen Schmerzen zu lindern. Doch er hielt inne. Es war ja noch etwas zu erledigen.

 

Aus der Kaschemme hörte er lautes Lachen. Der Jäger erkannte die Stimme von Blondie. Er war also noch drin. Gut.

 

Akio quälte sich langsam auf. Er musste seinen ganzen Willen zusammennehmen, um den Schmerz zu ignorieren. Dann humpelte er die enge Gasse hinauf. Mit jedem Schritt spürte er, dass sie ihn ganz schön rangenommen hatten. Er spuckte aus und wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht.

 

An einem Haufen Mülltüten blieb er stehen.

‚Was soll’s?’, dachte er sich. ‚Besser, als irgendwo dumm rumzustehen.’ Er setzte sich auf die Tüten und war überrascht, wie weich sie waren.

 

Er bekam Sehnsucht nach einem kleinen Tänzchen. Der würde die Schmerzen vertreiben. Akio überwand diesen Drang. Er holte seine Waffe aus dem Holster und kontrollierte sie. Der Strahler war in Ordnung. Der Jäger blickte zurück zur Kneipe. Er musste warten, bis seine Beute herauskam. Er begann eine seiner Atemübungen.

 

Zwei Stunden später hatte sich Akio hinter dem Müllhaufen versteckt. Die Blutungen hatten aufgehört und der Schmerzpegel sich auf ein erträgliches Maß reduziert. Er stand hinter den Plastikbeuteln und machte seine Muskelkontraktionsübungen. Eine Stunde lang beobachtete er so den Eingang. Leute kamen und gingen. Sein malträtierter Körper rief nach Schlaf. Seine Sucht wollte mit der Witwe tanzen.

 

Akio behielt dennoch die nötige Konzentration aufrecht. Er hielt sich immer vor Augen, worum es ging: seine Eltern, seine Schwester Ling und sein Bruder Kimo. Vor allem seinetwegen durfte Akio nicht versagen.

 

Die Kneipentür öffnete sich zum wiederholten Male. Akio war hellwach und wieder auf das Hier und Jetzt fokusiert. Rotten Bone torkelte auf die Straße, gefolgt von seinen beiden Gefolgsleuten.

 

Der Jäger wartet einen Moment, bis sie sich etwas von dem rettenden Eingang entfernt hatten. Dann trat er hervor und nahm eine stabile Schusshaltung ein.

 

Sein Strahler fauchte leise, als er den Abzug betätigte. Ohne auf das Ergebnis zu achten, schoss Akio noch zwei weitere Male. Dann nahm er die Waffe herunter. Er war ein sehr guter Schütze. Das hatte ihm auch die Witwe nicht nehmen können.

 

Rotten Bone war tot. Ebenfalls der Pirat, der hinter ihm gegangen war. Der Verbrecher, der als Letzter aus der Kneipe gekommen war, hatte nur einen Schuss in die Hüfte abbekommen. Schließlich musste einer überleben, damit niemand die Leichen fleddern konnte. Allerdings durfte er Akio auch nicht mehr verfolgen können.

 

‚Alles in Ordnung’, dachte Akio zufrieden, ‚Der Stick wird seinen Adressaten erreichen.’

Dann drehte er sich um und lief aus der Gasse.

Es war totenstill in der Ghost. Seit Tagen hatte Akio keinen fremden Laut mehr gehört. Er hörte seinen eigenen Atem, oder er sprach mit sich selbst. Er rezitierte Gedichte oder sagte Vorschriften auf, die er auswendig gelernt hatte. Er vermied es, Musik zu hören, um sich nicht von ihr gedanklich abtreiben zu lassen. Die Funkfrequenzen abzuhören brachte auch nichts. Die waren tot. Hier draußen in und nahe der Dunkelwolke gab es niemanden, der funkte.

 

Die Iriden des Jägers waren extrem geweitet. Die Pupillen waren an die vollkommene Dunkelheit seiner Umgebung angepasst und bildeten große, schwarze Löcher in Akios Augen.

 

Akios ovaler Helm war mattschwarz. Er war mit dem gleichen radarabsorbierenden Material verkleidet, wie die ganze Ghost. Im Gegensatz zu anderen Raumhelmen besaß er keine komplette Frontverglasung, sondern nur zwei getönte, handbreite Sehschlitze.

 

Akio trug in der Hornet wieder seine schwarze Tarnuniform. Sie war ordentlich und sauber. Akio war pedantisch, was seine Ghost und seine Ausrüstung anging. Die Uniform war mehr wie eine Rüstung. An sämtlichen Stellen, die nicht gebeugt werden mussten, bestand sie aus leichter, ebenfalls radarabsorbierender Hartplastik. Die Beuge- und Kontaktstellen waren so konstruiert, dass die Tarnfähigkeiten des Anzugs bei einem Außenbordeinsatz nicht beeinträchtig wurden.

 

Der abgedunkelte Bildschirm erzeugte kaum Licht und zeigte seit über einer Stunde die Freelancer des Shining Eye. Akio war sich ziemlich sicher, dass es der Piratenchef war. Er kannte sonst niemanden, der sich auf dem Dach seiner Freelancer einen Andockring anmontiert hatte. Piraten verwendeten zum Entern normalerweise eine Cutlass. Doch Shining Eye wollte offensichtlich nicht auf die Kampfkraft der modifizierten Freelancer MIS verzichten.

 

Der Piratenführer hatte also angebissen und die fingierte Geschichte auf dem Datenstick gekauft. Akio hoffte, dass der CleaverReaper bald auftauche würde. Er wusste nicht, wie viel Geduld Shining Eye hatte und wie lange er warten würde, bis er wieder davonflog.

 

Der Jäger litt wieder unter den Symptomen seiner inneren Anspannung. Es war die letzten drei Jahre immer schlimmer geworden. Akio wunderte sich nicht, woher das kam. Schließlich hatte er die letzten Jahre verbissen auf den heutigen Tag hingearbeitet.

 

Er hatte sich alle nötigen Informationen über seine Ziele zusammensuchen müssen. Über Piraten, die ganz oben in der Hierarchie standen, die sowieso nie über Geheimnisse sprachen und die erst recht keinen planbaren Tagesablauf hatten. Und während er den Informationskrümelchen hinterher gejagt war, hatte er immer darauf achten müssen, selbst nicht entdeckt zu werden. Seine hochqualifizierte Militärausbildung war diesbezüglich eine sehr große Hilfe gewesen.

 

Nach seiner Schulausbildung hatte sich Akio gegen den Willen seines Vaters zum Militärdienst gemeldet. Er war Achtzehn gewesen und wollte etwas erleben. Er hatte genug gehabt von dem Citizenship-Getue seines Vaters, der als öffentlich bekennender Centralist in einem Mitarbeitstab eines Gouverneurs mitgearbeitet hatte.

 

Nach der Grundausbildung musste Akio einige Monate in der Materialverwaltung arbeiten, bevor sein Pilotenkurs angefangen hatte. Danach hatte er sich als Hornetpilot für Kampfeinsätze gemeldet und in dieser Zeit jede Menge Vanduuls vom Himmel geholt.

 

Als Akio 21 war, kam sein Bruder Kimo ebenfalls zum Militär. Akio hatte ihn dazu ermuntert, was seinen Vater nur noch wütender gemacht hatte. Im Gegensatz zu seinem Bruder kam Kimo zur Army. Er bekämpfte die Vanduuls am Boden.

 

Zwei Jahre später, ungefähr zu der Zeit, als sein Bruder Kimo bei einem Einsatz schwer verletzt wurde, kam Akio zur Aufklärungseinheit. Die anspruchsvolle Ausbildung an der Ghost dauerte zwölf lange Monate. Dabei ging es nicht nur um die Bedienung der geheimen Spionagegeräte, sondern vor allem auch um die absolute Kontrolle seiner eigenen Psyche.

 

Ein Ghostpilot musste tagelang in seiner Maschinenkanzel ausharren können und durfte dabei nie seine Konzentration verlieren. Dreiviertel seiner Ghostausbildung wurde darauf verwendet. Die allermeiste Zeit saß er dabei in seiner Ghost. Zuerst tagelang in einem abgedunkelten Hangar, danach wochenlang in einem weiten, sternenarmen Nichts.

Akio hatte gelernt, die Dunkelheit zu lieben.

Eine Ghost für eine Pizza!

Akio verfluchte diese Pseudoastronautennahrung. Laut Werbeversprechen sollte YeNOVA von Torrele Foodstuff sämtliche nötigen Mineralien, Spurenelemente und Vitamine beinhalten, die ein einsamer Pilot in den Weiten des Alls benötigte. Dazu noch die nötigen Amino- und Fettsäuren. Dieser wässrige Brei mit Vanillegeschmack war ein isotonisches Gemenge, das schnell und restelos verdaut werden konnte.

 

Akio hatte allerdings das Gefühl, dass dem YeNOVA ein paar bestimmte Fettsäuren fehlten. Ansonsten würde er nicht diesen Heißhunger auf Pizza verspüren. Die Astronautennahrung vom Militär hatte diese Nebenwirkung nicht gehabt.

 

Im Informationsnetz des Spectrum hatte Akio keine Lösung zu diesem Problem gefunden, obwohl viele Verbraucher davon berichteten. Torrele Foodstuff reagierte jedoch nicht darauf. Sie sah keinen Handlungsbedarf und belegte das mit diversen Studien. Zumindest wusste Akio nun, dass es nicht nur an ihm lag. Und er hatte bei seinen Recherchen auch ein neues Wort gelernt: Craving. Es umschrieb das heftige Verlangen nach einer bestimmten Substanz. Dabei war es unerheblich, ob man nach Pizza oder Drogen lechzte.

 

Bei dem Gedanken an eine Pizza kamen dem Jäger die leckersten Bilder in den Kopf. Akio stellte sich eine schöne saftige Pizza vor, mit Salami- und Tomatenscheiben, Speckwürfel, Zwiebelringen und Knoblauch obendrauf. Der knusprige Rand schön fett mit Käse überbacken.

 

Er fluchte leise.

 

Vor fünf Tagen hatte er seine Ernährung umgestellt, um sich auf diesen Einsatz vorzubereiten. Er hatte keine feste Nahrung mehr zu sich genommen. Nur noch Getränke, Suppen und Kraftbrühen und dieses YeNOVA. Den Anteil dieser Kunstnahrung hatte er in diesen Tagen immer weiter erhöht.

 

Zwölf Stunden vor dem Einsatz hatte Akio sich ein Klistiermittel in den Anus gedrückt. Eine halbe Stunde später hatte er dann alles, was noch in seinem Darm gewesen war, in einem satten Strahl ausgeschieden. Danach war der Darm komplett entleert gewesen. Das eliminierte den natürlichen Drang, auf eine Toilette gehen zu müssen.

 

Das alles gehörte zu einer vernünftigen Missionsvorbereitung. Ein Jäger musste in der Lage sein, tagelang in seiner Ghost ausharren zu können.

 

Sein Urin hingegen wurde von dem Lebenserhaltungssystem seines Raumanzugs verwertet. Das gefilterte und recycelte Wasser war geruchsfrei und geschmacklos. Akio dachte schon lange nicht mehr darüber nach, dass er seine eigene Pisse trank. Das tat jeder Pilot.

 

Wie schön wäre jetzt eine Pizza. Nur ein Stückchen. Ein kleiner Bissen. Schön zart, saftig und würzig. Heiß auf der Zunge.

 

Akio fluchte wieder. Lauter diesmal. Hoffentlich kam der verdammte CleaverReaper bald. Akio wollte nicht mit ansehen, wie die Freelancer unverrichteter Dinge wieder abzog. Er hatte so viel Zeit, Arbeit und Energie in diese Mission gesteckt. Geschweige denn die emotionale Berg- und Talfahrt, die er durchlebt hatte. Das hier musste einfach funktionieren.

 

Akio bezweifelte, dass er eine solche Falle ein zweites Mal vorbereiten konnte. Dazu fehlte ihm die Kraft. Die Witwe zehrte an ihm und Akio wusste, dass sie ihn bald über die Klippe in den Abgrund zerren würde. Dass er ihr überhaupt so lange widerstehen konnte, schrieb der Jäger seiner hervorragenden, psychologischen Ausbildung bei der Flotte zu. Normalerweise lief eine WiDoW-Sucht viel dramatischer ab.

 

Wie lange war es her, dass er eine Pizza gegessen hatte? Akio wusste es nicht. Das war wohl noch in der Grundausbildung gewesen. Oder hatte er da schon seinen Pilotenschein gehabt? Akio war überrascht, wie lange das her war. Seit er Ghostpilot war, hatte er immer sorgfältig auf seine Ernährung geachtet. Eine Pizza hatte da einfach nicht in die Lebensphilosophie gepasst. Als Ghostpilot war man kein Mensch mehr. Man war die Ghost.

 

Plötzlich ein Lichtreflex.

Der Jäger vergaß sofort seinen Heißhunger auf die Pizza.

Auf der optischen Anzeige vor ihm sah er die allzu bekannte Constellation des CleaverReaper.

 

Endlich – die Beute.

Der vierzig Jahre alte Relaissatellit der UEE-Navy war im Fadenkreuz der Zieloptik. Sie hing schwerelos im freien Raum. Hinter ihr, tausende Lichtjahre entfernt, formte eine gigantische, weiße Lichtwolke neue Sonnen in ihrem Inneren. Links des Satelliten entfernte sich ein milchigweißer Spiralarm in die Unendlichkeit. Rechts war die Aussicht von einer gigantischen, rotglühenden Staubwolke ausgefüllt, die den Satelliten in ein zartorangenes Licht hüllte.

 

Das nur zehn Meter durchmessende Objekt mit seinen vier Parabolantennen war auf der Anzeige deutlich zu erkennen. Die Ghost flog direkt darauf zu. Der Entfernungsmesser gab 173 Kilometer an – langsam abnehmend. Das war in der modernen Raumfahrt keine Entfernung. Jede Aurora legte diese Strecke in kürzester Zeit zurück. Allerdings flog Akios modifizierte Hornet momentan nur mit achtzehn Kilometern pro Stunde auf den Satelliten zu.

 

Der Jäger schlich förmlich. Er pirschte sich heran.

 

Akio hatte herausgefunden, dass der CleaverReaper die Militärkommunikation in diesem Quadranten gehackt hatte. Darum wusste er immer, wo und wann die Navy Patrouillenflüge durchführte, welche Konvois bewacht waren, und welche Transportschiffe nicht. Das machte ihn so außerordentlich erfolgreich und gefährlich. Die UEE wusste davon nichts. Sie glaubte an das Dogma der unhackbaren Software. Der Jäger hingegen wollte diese Erkenntnis für seine Jagd ausnutzen.

 

Akio prüfte zum letzten Mal die offene App MG.Ghost auf seinem mobiGlas. Eine kleine Antenne mit drei Funkstrichen zeigte beste Verbindungsqualität. Die Remote-Funktion wurde im Vordergrund angezeigt.

 

Akio öffnete die Cockpitkanzel. Lautlos glitt das Glasdach nach vorne weg. Akio stand auf und stellte sich auf seinen Sitz. Akio, in seiner schwarzen Raumfahrerrüstung, ragte nun zur Hälfte aus der Kanzel heraus. Mit seiner rechten Hand hielt er sich an der Verstrebung seiner Glaskanzel fest. Er hielt inne.

 

Durch seinen Helm visierte er eine Sternkonstellation in Flugrichtung an und prägte sich deren Position genau ein. Er zog seine Beine leicht ein und schwebte scheinbar bewegungslos über seinem Pilotensitz. Er ließ nun auch die Scheibenverstrebung los, sodass er völlig unabhängig im Raum schwebte. Wie seine Ghost trieb nun Akio ebenfalls völlig schwerelos auf den weit entfernten Satelliten zu.

 

Der Jäger beobachtete die Sternkonstellation ganz genau. Das hier war ein kritischer Moment. Wenn er nicht präzise genug war, müsste er später seinen Kurs korrigieren. Und die ungeplante Nutzung seiner Korrekturdüsen barg immer ein Risiko der Entdeckung.

 

Akio tippte einen Button auf seiner App und die vier oberen Korrekturdüsen flammten ganz kurz auf. Sein Raumschiff fiel ganz langsam unter ihm weg. Der Jäger schwebte nun ganz allein frei im Raum.

 

Für Akio war es immer ein erhebender Moment. Er fühlte sich wie ein Kind bei der Geburt, wenn es den Mutterleib verließ. Verlassen von der Wärme und der schützenden Geborgenheit. Doch auf der anderen Seite eine grenzenlose Freiheit spürend. In diesen Momenten wurde er sich angesichts der Unendlichkeit seiner Winzigkeit bewusst.

 

Die Ghost fiel immer weiter unter ihm weg. Der Jäger gab dem Schiff den Befehl anzuhalten. Ein kurzes Leuchten der vorderen Korrekturdüsen und die Ghost blieb langsam hinter Akio zurück.

 

Der einsame Jäger war unterwegs. Der militärische Kommunikationssatellit war über 160 Kilometer entfernt. Akio musste verhindern, dass die Überwachungs-KI sein Näherkommen als Bedrohung in irgendeiner Art einschätzte. Denn dann würde sie ein Notsignal an die Flotte schicken und ihre Arbeit einstellen. Akio konnte dann seinen Plan vergessen.

 

Bis jetzt konnte der Jäger davon ausgehen, dass der Satellit ihn noch nicht geortet hatte. Aber arg viel näher wollte Akio mit seiner Ghost nicht heranfliegen. Nicht, dass er kein Vertrauen in die radarabsorbierenden Fähigkeiten seines Aufklärers hatte. Es war aber ein vermeidbares Risiko, das Akio nicht eingehen wollte.

 

So trieb der Jäger einsam und verlassen auf sein Ziel zu. Vor sich ein langer Flug, der ihm viel Zeit gab, darüber nachzudenken, was alles schief gehen könnte. Plötzlich fühlte er eine beklemmende Angst in seiner Brust.

 

Etwa neun Stunden später kam der Jäger total verschwitzt und kurzatmig bei dem Satelliten an, auf dem das Emblem der UEE-Navy sowie eine Einheitskennung prangte. Endlich war die Tortur vorbei! Akio prallte gegen eine der großen Parabolantennen. Krampfhaft hielt er sich am Rand der Antenne fest und versuchte durchzuatmen. Es war vorbei, redete er sich ein. Er war in Sicherheit.

 

Verdammtes WiDoW! Akio hatte in den letzten Stunden eine noch nie gekannte Hölle durchlebt. Er hatte sich im Spectrum natürlich auch über die WiDoW-Sucht informiert. Aber der Begriff ‚Angststörung’ war nur ein Wort gewesen. Er hätte nie erwartet, dass ihn das treffen könnte. Stundenlange Außeneinsätze im freien Raum waren für Ghostpiloten Routine. Noch nie hatte Akio ein Problem damit gehabt. Im Gegenteil: Er hatte die Einsamkeit und die Stille genossen. Doch heute hatte ihn die Angst mit dieser endlosen Einsamkeit erschlagen.

 

Verdammte Witwe, fluchte Akio ein zweites Mal. Er spürte, wie seine Ruhe zurückkehrte. Allein die Existenz des Satelliten spendete Trost. Akio fühlte sich nicht mehr allein. Die Angst war verflogen und der Jäger konnte sich wieder seiner Mission widmen.

 

Er hangelte sich am Rand der Antenne zum unteren Teil des Satelliten. Immer davon ausgehend, dass die Schrift das Oben und Unten einer Sache definierte.

 

Der Jäger konnte davon ausgehen, dass die Überwachungs-KI keinen Alarm geschlagen hatte. Der offensichtliche Beweis war das Ausbleiben von tödlichen Schüssen. Akio bezweifelte weiterhin, dass die KI einen stillen Alarm ausgesandt hatte. Das konnte er am Äußeren des Satelliten nicht bestimmen, doch verließ er sich ganz auf seine Erfahrung.

 

Er stieß sich von der Antenne ab und schwebte zum Boden des Satelliten. Dabei drehte er sich so, dass er mit den Füßen voran auf der Oberfläche ankam. Akio hörte durch seinen Anzug hindurch ein lautes Klacken. Die Magnetstiefel hatten Halt gefunden.

 

Er ging noch ein paar Schritte zum unteren Pol und benutzte sein Spezialwerkzeug, um die Bodenplatte zu öffnen. Leise verschwand ein etwa Quadratmeter großes Bodenstück zur Seite und eine dunkle Luke öffnete sich. Eine zehn Zentimeter durchmessende Säule aus milchigem Plastikglas glitt bis zu Hüfthöhe nach oben. Auf dem Top war ein schmaler Schlitz eingelassen.

 

Akio verwendete seine Hundemarke als Schlüssel. In ihm waren geheime mikroelektronische Bauteile und ein Nanitenspeicher eingebaut. Akios Hand zitterte noch etwas. Eine Nachwirkung der stundenlangen Angstattacke. Doch der alte Satellit akzeptierte die Authentifikation und kontaktierte Akios mobiGlas. Das blau schimmernde Holopanel zeigte die schlicht gehaltene Steuerungssoftware.

 

Mit wenigen Gesten kopierte Akio die vorbereitete Nachricht in den Float. In der gleichen Sekunde war sie bereits abgeschickt.

 

Die Nachricht war persönlich an einen Kreuzerkapitän der Wachflotte adressiert. Die Mail war von der Administration des UEE-Oberkommandos und befahl dem Kapitän, sich mit Shining Eye zu treffen. Der Piratenanführer wolle den CleaverReaper verraten und sich danach mit dem so verdienten Kopfgeld aus dem Piratengeschäft zurückziehen. Die Oberste Anwaltschaft der UEE habe bereits zugesichert, in diesem Falle auf eine weitere behördliche Strafverfolgung zu verzichten.

 

Der Jäger wusste, dass der Kapitän Heimaturlaub hatte und persönliche Nachrichten von dem Stellvertreter nicht eingesehen werden konnten. Der Kapitän würde die Nachricht somit erst nach seiner Rückkehr lesen – und sich wundern.

 

Der CleaverReaper würde natürlich seinerseits recherchieren. Auch er würde herausfinden, dass der Kapitän von diesem Befehl zu spät Kenntnis erhalten würde. Für den Schlitzer würde es aber nur wie ein kleiner, bürokratischer Fehler aussehen. So etwas passierte öfter, als sich der brave Citizen wünschen würde. Der Jäger war überzeugt davon, dass er mit dieser Nachricht das Interesse des CleaverReaper wecken würde.

 

Akio beendete die Verbindung zum Satelliten. Dadurch wurde die Prüfsäule automatisch wieder eingefahren und die Luke geschlossen.

 

Akio schaute nach oben. Er fühlte Zweifel. Würde die Angst wiederkommen? Er konnte nicht hier bleiben. Er musste zurück zu seiner Ghost. Aber er wollte nicht. Er hatte Angst, dass er die gleiche Hölle wie beim Herflug durchleben würde. Schon die Angst vor der Angst machte ihm Angst. Dann kam ihm die Idee, dass er in der Ghost ja wieder ein wenig mit der Witwe tanzen konnte. Die Mission war erledigt und er hatte sich eine Belohnung verdient. Dieser Gedanke tröstete ihn.

 

Akio ging tief in die Hocke, deaktivierte die Magnetfunktion seiner Stiefel und stieß sich kräftig ab. Mit mäßiger Geschwindigkeit fiel er ins dunkle Nichts zurück. Der alte Militärsatellit verschwand unter ihm.

 

In fünfzehn Stunden würde der Jäger das Bei-Fuß-Kommando auf seiner MG.Ghost-App aktivieren. Seine modifizierte Hornet würde dann automatisch seine Position anfliegen und ihn aufnehmen. Nach seinem Tänzchen würde Akio zum Treffpunkt fliegen. In drei Tagen sollte das Treffen stattfinden. Der Jäger ging davon aus, dass der CleaverReaper die Zeit nutzen würde, um die Gegend zu überprüfen. Akio musste sich also vorher schon ein Versteck suchen und dort wie ein Schatten in der Nacht auf seine Beute lauern.

Der Jäger beobachtete Köder und Beute. Noch war es ruhig. Die Constellation näherte sich schnell der bewegungslos im Raum hängenden Freelancer. Beide Toppiraten unterhielten sich. Akio empfing deren Kommunikationssignale und dechiffriere sie mühelos. Für seine hochempfindlichen Empfänger und sein spezialisiertes Lauschequipment war das keine große Herausforderung.

 

Nachdem nun nicht der erwartete Infoagent erschienen war, hatte Shining Eye sofort erkannt, dass er in eine Falle getappt war. Er versuchte, den CleaverReaper davon zu überzeugen. Er argumentierte, drohte, flehte. Der Jäger konnte deutlich seine Verzweiflung aus seinen Worten heraushören.

 

Für den CleaverReaper war es eindeutig. Sein ärgster Rivale befand sich fernab jeder Zivilisation und Piratenkaschemme im tiefsten Raum. Und das ohne sein Pack, mit dem er sonst immer unterwegs war. Der Schlitzer hatte keinen Grund, an dem Militärbefehl, den er abgefangen hatte, zu zweifeln.

 

Nach einigen harschen Beleidigungen hörte Akio nur noch Rauschen auf allen Frequenzen. Der CleaverReaper hatte einen Störsender aktiviert.

 

Die schnittige Constellation des CleaverReaper war ein luxuriöses Phoenix-Modell. Mit ihren rund 61 Metern Länge war sie ungefähr doppelt so lang wie die Freelancer MIS, dadurch aber 3-mal schwerer. Ihre stärkeren Triebwerke sorgten dafür aber für eine ähnlich gute Manövrierbarkeit. Allerdings war Akio gespannt darauf, wie sie mit der Hauptbewaffnung der ’Lancer klarkommen würde. Im Bauch des zum Kampfschiff umgerüsteten Transporters warteten 56 Raketen auf ihre tödliche Bestimmung.

 

Akio beobachtete auf seinem matten, schwach rotleuchtendem Display die beiden lauernden Kontrahenten. Seine W&F-Ultrazoom-Kamera unter der Hornetnase lieferte dem Jäger gestochen scharfe Bilder im Infrarot-, im UV- und im normaloptischen Bereich. Dieses künstliche Auge wurde von Wilkes & Federmen speziell nur für die UEE-Navy konstruiert.

Die im Helm integrierte HUD lieferte Akio die nackten Zahlen zu dem Schauspiel.

 

Es zuckte auf. Die Connie schoss zuerst. Mühelos wurden die Energien von dem Schutzschirm der MIS abgewehrt. Shining Eye schickte die erste Welle seiner Raketen los. Akios HUD zählte 16 Flugkörper. Shining Eye wollte es auf keinen Versuch ankommen lassen. Er hatte dem CleaverReaper gleich alles entgegengeworfen, was an seiner ’Lancer gehangen hatte. Er brauchte mit Raketen nicht zu geizen. Die Raketennachfüllstationen ergänzten die Werfereinrichtungen vollautomatisch.

 

Grelle Explosionen zuckten zwischen den beiden Schiffen auf. Die Phoenix pickte die Raketen mit ihren zielgenauen Laserkanonen aus der Luft. Nur noch eine Handvoll von ihnen verpufften wirkungslos im Energieschirm der Connie.

 

Sofort nahm sie den Angriff wieder auf und malträtierte die Lancerschirme mit ihren Waffen. Die Freelancer nahm Fahrt auf und versuchte, den Schüssen auszuweichen. Ihre beiden, doppelläufigen Kroneg an ihren Flanken warfen hilflos Energiezungen in den Schirm der Connie. Sie waren nur gegen kleine Schiffe wirkungsvoll. Doch Shining Eye musste sich Zeit erkaufen, bis die Raketen nachgeladen waren.

 

Ein zweiter Schwarm verließ die MIS und fiel auf die nachfolgende Connie zu. Dieser wurde genauso mühelos abgewehrt. Den Beschuss der Phoenix wehrte die MIS selbst wiederum mühelos ab, da Shining Eye seinen Heckschirm mit 100% Energie versorgte. Aus der Entfernung schien es, als ob die Freelancer von einer glühenden Energiemauer verfolgt wurde. Seine Flanken und der Bug waren vollkommen entblößt. Doch die konnte der CleaverReaper nicht angreifen, da er hinter der Lancer zurückblieb.

 

Es war ein ausgeglichenes Duell. Auf der einen Seite eine starke Bewaffnung und auf der anderen Seite eine starke Abwehr. Es schien auf ein unbefriedigendes Unentschieden hinauszulaufen.

 

Doch der Jäger hätte den falschen Köder ausgelegt, wenn die Beute sie nicht hätte reißen können. Akio kannte die militärische Stärke der Connie. Und der CleaverReaper hielt sie nicht lange zurück.

 

Unter der Phoenix erschien ein graziler Pfeil. Es war das zwölf Meter lange Beiboot der Constellation: die P-52 Merlin. Das verriet, dass die Connie schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Denn die heutige Phoenix-Variante wurde mit der leistungsfähigeren P72-Archimedes ausgeliefert.

 

Kaum dass die Merlin abgedockt hatte, nahm sie auch schon Fahrt auf. Während das Mutterschiff ununterbrochen auf die Freelancer feuerte, ging ihr schnelles Beiboot in eine Rechtskurve, um den Gegner von der Flanke aus anzugreifen.

 

Shining Eye warf eine dritte Welle von Lenkraketen ins Gefecht. Vermutlich wusste er selbst, dass es nur noch eine Verzweiflungstat war. Spätestens, als diese Raketen abgeschossen waren oder im Schirm der Connie explodierten, musste der Pirat wissen, wie der Kampf ausgehen würde.

 

Die Merlin kam von seiner Steuerbordseite. Die ersten Schüsse schlugen in den ungeschützten Stahl und rissen ihn in Fetzen heraus. Eye reagierte, wie er reagieren musste. Er baute den schützenden Steuerbordschirm wieder auf. Doch die dafür nötige Energie fehlte nun im Heckschirm.

 

Die Connie und die Merlin koordinierten ihren Beschuss. Sie feuerten zeitgleich in den gegnerischen Schutzschirm. Diese konnten den ungestümen Gewalten nicht lange standhalten. Ein erster Schuss der Phoenix durchdrang den Schirm und schlug in die Triebwerksregion der ’Lancer. Sofort geriet Eye ins Trudeln. Der CleaverReaper hielt den Beschuss aufrecht. Ein zweiter Schuss zerstörte das linke Haupttriebwerk. Sofort verlor die Freelancer an Fahrt. Sie schien förmlich zu humpeln.

 

Die Merlin erzielte nun ihrerseits einige Treffer. Mit einem gekonnten Driftwendemanöver gelang es dem Piloten, beide Flankenkanonen der MIS mit einem einzigen Anflug auszuschalten. Das rang dem still beobachtenden Jäger einen gewissen Respekt ab.

 

Ein gekonnt platzierter Schuss aus der Connie zerfetzte das zweite Haupttriebwerk der Freelancer. Mit den Hilfstriebwerken versuchte Shining Eye, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Doch die Merlin nahm sein Energieaggregat ins Visier und beendete so den Kampf. Die Freelancer trieb als hilfloses Wrack durch den Raum.

 

Akio war zufrieden. Alles lief nach Plan. Der einsame Jäger beobachtete auf seinem Schirm, wie die Merlin zur Constellation zurückflog und dann beide Schiffssilhouetten wieder miteinander verschmolzen. Die Phoenix pirschte sich daraufhin an die Freelancer heran. Akio sah dabei zu, wie sie andockte.

 

Er schmeckte den bitteren Geschmack von Magensäure in seinem Mund und er erkannte, wie angespannt er war. Sein Magen war total verkrampft und verursachte ihm schweres Sodbrennen. Diese krankhafte Anspannung war schon chronisch. Akio betrachtete diese Krankheit mittlerweile mit einer stoischen Gelassenheit. Er wusste ja, woher das kam. Denn jedes Mal, wenn der CleaverReaper gemordet hatte, fühlte Akio sich persönlich dafür verantwortlich. Er hatte es nicht geschafft, den Schlitzer rechtzeitig davon abzuhalten. Jeder Tote auf der Liste des CleaverReaper lastete Akio sich selbst an. Er jagte ihn schon seit drei Jahren. Eine verdammt lange Zeit mit verdammt vielen Toten.

 

Akio wurde plötzlich bewusst, dass sein Plan in die entscheidende Phase getreten war. Er ignorierte seine Magenschmerzen und sein quälendes Verlangen nach Pizza und widmete sich der Schiffssteuerung.

Jetzt war seine Zeit gekommen. Er würde heute dem mörderischen Treiben des CleaverReaper ein Ende bereiten. Jetzt war er an der Reihe.

 

Endlich – der Jäger!

Akio stupste nur kurz seinen Steuerknüppel nach vorne. Die beiden unteren Heck- und die beiden oberen Bugkorrekturdüsen seiner Ghost leuchteten ganz kurz auf. Die kleinen Flämmchen, die sie ausspuckten, hätten nicht einmal für ein Lagerfeuer gereicht.

 

Nur ganz langsam nickte die Ghost träge nach vorne. Fast wie in Zeitlupe sackte die kantige Nase nach unten hin ab. Sie rang förmlich um jeden Zentimeter. Schier endlos zogen sich die Sekunden.

 

Das Auge unter der Hornetnase konnte den Zielen nicht mehr folgen und die beiden Schiffe auf der matten Anzeige verschwanden im oberen Bildrand. Akio schaltete den nutzlos gewordenen Monitor aus. Es war ein kritisches Manöver für den Jäger, der seine Beute nun nicht mehr sehen konnte. Denn für eine direkte Sicht waren die Schiffe zu weit entfernt und außerdem gab es nicht genügend Licht.

 

Doch die Passivortung lieferte weiterhin die Daten der beiden Schiffe auf sein HUD. Akio wusste somit immer noch, wo sie sich befanden und wie ihr Status war.


Nach einer schier endlosen Minute war die Ghost um 90° Grad nach vorne genickt. Akio stupste erneut dezent seinen Steuerknüppel. Dieses Mal in die andere Richtung. Die Hornet gehorchte und stoppte. Sie stand nun im relativen Verhältnis zu den Piratenschiffen Kopf nach unten. Aus Akios Perspektive befanden sich die Ziele nun direkt über ihm.

 

Der Jäger befeuerte nun ganz vorsichtig die unteren Korrekturdüsen. Stärker jetzt als bei dem Nickmanöver.

Normalerweise diente dieses Manöver dazu, die hellen Flammen unter der Ghost zu verstecken und so unentdeckt zu bleiben. Doch der umgebende Staub der Dunkelwolke wurde zum Verräter. Denn sie wurde jetzt in einer kritischen Weise von dem Feuer luminesziert. Ein gefährlicher Moment für den heimlichen Jäger. Ein möglicher Beobachter konnte nun eine auf dem Kopf stehende Silhouette einer Hornet sehen, die von einer dunkelgrau leuchtenden Aura umgeben wurde.

 

Während die Ghost immer weiter an Fahrt aufnahm, beobachtete Akio über sein HUD die beiden Schiffe. Sie trieben weiterhin bewegungslos im freien Raum und schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Akio wusste, dass sich die beiden Besatzungen in diesem Moment ein heftiges Feuergefecht lieferten.

 

Er war sich auch ziemlich sicher, dass der CleaverReaper gewinnen würde. Denn seine Constellation war mit einer teuren Talisman-Infraschallkanone ausgerüstet. Diese Waffe erzeugte unhörbare Vibrationen unter 20 Hertz. Obwohl im freien Raum absolut unbrauchbar, durchdrang sie bei angedockten Schiffen die Schleusen und Raumanzüge. Ihr Einsatz rief bei den Opfern entsetzliche Panik hervor und lähmte so ihren Kampfeswillen. Diese Schallkanone war eigentlich eine reine Defensivwaffe. Doch hing es natürlich immer davon ab, wer sie bediente.

 

Der Jäger beschleunigte sein Schiff mit kaum brennenden Düsen auf knapp achtzig m/sec. Dann ließ er sich treiben. Er hielt mit präziser Genauigkeit auf die beiden Schiffe zu. Mit dieser Geschwindigkeit würde er sich in einigen Minuten an sie herangepirscht haben. Akio wusste, dass er diese Zeit hatte, denn er kannte auch das weitere Vorgehen des CleaverReaper, nachdem er das gegnerische Schiff gekapert und die Besatzung überwältigt hatte. Schließlich hatte der Schlitzer die letzten Jahre genügend Zeugnisse seiner Schandtaten zurückgelassen.

 

Akio sah wieder die schrecklichen Bilder vor sich. Sein Schuldgefühl griff wieder nach ihm, weil er es nicht verhindert hatte. Jeder einzelne Tote lastete schwer auf seinem Gewissen. Akio fühlte sich verantwortlich. Warum war er immer so langsam gewesen? Warum hatte es immer so lange gedauert, um an die nötigen Informationen heranzukommen? Warum hatte er es nicht geschafft, den CleaverReaper schneller zu fassen?

 

Irgendwann hatte Akio sich wie der berühmte Esel gefühlt, der einer Mohrrübe hinterherlief, die vor seiner Nase hing. Ohne zu merken, dass die Rübe an einem Stock hing, der an seinem Kopf angebunden war. Er konnte so viel und so schnell laufen, wie er wollte. Er würde die Mohrrübe nie erreichen.

 

Der CleaverReaper war einfach zu gut und zu vorsichtig gewesen. Er führte die Kopfgeldliste nicht nur deswegen an, weil er so grausam und bestialisch war, sondern vor allem, weil er zu klug gewesen war, um sich erwischen zu lassen. Es hatten sich schon viele Kopfgeldjäger auf die Jagd nach ihm gemacht. Denn die Belohnung auf seinen Tod war astronomisch.

 

Nicht nur die UEE hatte ein beachtliches Kopfgeld ausgelobt, sondern auch das Banureich und die Xi’An Erbmonarchie. Hinzu kamen noch die Gelder der verzweifelten Hinterbliebenen, die mit ihrem Beitrag ein Stückchen Gerechtigkeit einfordern wollten.

 

Keiner der Jäger war je zurückgekehrt.

 

Akio rekapitulierte die Karriere des CleaverReaper. Er kannte alle Namen der Opfer, ebenfalls wann und wo der Schlitzer sie alle getötet hatte.

 

Das erste Opfer starb vor bald vier Jahren. Es war ein junger Xi’An-Händler gewesen, der ausgeweidet in seiner treibenden Aurora gefunden worden war. Nach zwei weiteren toten Xi’An und einem toten Banu dachten die Behörden zuerst an einen xenophoben Serienmörder. Doch dann fand man in der Perry-Line, dem Niemandsland zwischen Xi’An-Raum und der UEE, auf einem wissenschaftlichen Außenposten fünf weitere ausgeweidete Tote: drei Xi’An-Wissenschaftler und zwei Menschen. Danach nahm es die Advocacy etwas genauer mit den Untersuchungen und lobte sofort ein Kopfgeld aus.

 

Ein Jahr später konnte ein Geheimdienstmitarbeiter des OES – dem Office of Executive Services – einen Erfolg verbuchen. Bei der Beschattung eines Waffenhändlers gelang ihm unabsichtlich eine Aufnahme des Reapers. Ein Abgleich mit der Datenbank des UEE-Miltärs ergab, dass der Pirat bei der Army gewesen war. Da dessen Krankenakte vorlag, war das Geheimnis um den CleaverReaper schnell gelüftet.

 

Bei einem Verteidigungskampf gegen die Vanduul erlitt dieser Soldat eine schwere Kopfverletzung. Die Verbindung zu seiner Amygdala, der Gefühlsregion seines Gehirns, war durchtrennt worden. Dadurch hatte er die Fähigkeit verloren, Situationen emotional zu bewerten. Das machte ihn gefühlskalt. Der Verlust der Angstempfindung machte ihn darüber hinaus außergewöhnlich aggressiv und gewaltbereit.

 

Seither wusste man, wer der CleaverReaper war und dass er aus gutem Hause stammte. Aufgrund seiner Verletzung wusste man, warum er so grausam handelte.

Doch niemand – auch Akio nicht – hatte je erklären können, warum der Schlitzer seine Opfer mit einem Hackebeil aufschnitt und sie bei lebendigem Leibe ausweidete.

 

Akios Überlegungen wurden von stechenden Schmerzen in seiner Magengegend unterbrochen. Sein entsetzliches Sodbrennen war zurückgekehrt. Irritierenderweise hatte der Jäger immer noch Heißhunger auf Pizza.

 

Als ob das nicht schon genug wäre, fing sein rechtes Bein an, unkontrolliert zu zucken. Akio schlug mit der Faust ein paar Mal kräftig drauf. Doch das hatte noch nie geholfen. Dann hielt er das Bein fest. Unter seinen Handschuhen spürte er die wilden Zuckungen. Akio unterdrückte wütend seine verzweifelten Tränen. Nicht das noch. Nicht jetzt!

 

Er hatte es letztes Jahr untersuchen lassen. Der Doktor hatte gemeint, dass es eine somatoforme Störung war und somit keine körperliche Ursache hatte, die er operativ entfernen oder mit Medikamenten heilen konnte. Es war ein Ausdruck von andauerndem Stress und fortwährender Anspannung. Des Weiteren hatte der Arzt ausgeführt, dass es auch ein Anzeichen für Angst oder eine traumatisierende Kriegserfahrung sein könnte. Akio hatte nur kurz aufgelacht.

 

Offenbar wolle Akio vor irgendetwas davonlaufen, hatte der Doktor salopp gesagt. Er müsse sein Leben umgestalten und zur Ruhe kommen. Dann würde dieses Zucken auch wieder verschwinden.

Am nächsten Tag hatte Akio sein erstes Tänzchen mit der Witwe gehabt.

 

Der Jäger überlegte sich, ob er es jetzt wagen konnte. Er schaute auf den Entfernungsmesser und auf die Uhr. Eigentlich durfte er nicht. Er musste bei klarem Verstand bleiben. Aber seine Magenschmerzen, sein Heißhunger auf Pizza und jetzt noch das zuckende Bein ließen ihn verzweifeln. Er konnte sich nicht mehr auf seine Mission konzentrieren, wenn ihn all das ablenkte.

 

Zeit genug hatte er ja. Wenn er nur einen kleinen Tropfen nahm, würde die Umarmung der Witwe – die Zeit, in der er geistig abwesend war – nur ein oder zwei Minuten andauern. Akio fasste sehr schnell den Entschluss. Er wusste, dass er nur unnötig Zeit verlieren würde, wenn er darüber nachdachte und versuchte, dagegen anzukämpfen.

 

Er holte seine Besteckmappe aus seiner Beintasche und nahm das WiDoW-Fläschchen heraus. Außerdem ein Stückchen Würfelzucker, das in einem kleinen Plastikbeutel abgepackt war. Er konnte sich die Droge durch den Raumanzug nicht spritzen. Darum träufelte er einen Tropfen der dunkelbraunen Flüssigkeit auf den Würfelzucker. Ohne Zucker würde der Geschmack sonst einen Brechreiz auslösen und er müsste sich übergeben.

 

Akio verstaute seine Besteckmappe wieder in die Beintasche und öffnete seinen Helm. Sein Atem bildete kleine Wölkchen. In der Kabine war es bitterkalt. Das Innenthermometer zeigte -10 Grad Celsius. Es musste so kalt sein, damit die Tarnfähigkeit der Ghost aufrecht erhalten blieb.

 

Die Dreifach-Isolierverglasung seines Kabinenfensters sorgte mit seiner außerordentlichen Isoliereigenschaft dafür, dass die Außenscheiben nur noch -90 Grad Celsius ‚warm’ waren. Doch bei einer Außentemperatur von -273 Grad würden die Cockpitscheiben bei manchen gekühlten Infrarotdetektoren dunkelrot aufleuchten. Solche Spezialkameras gab es zwar bei allen Militärflotten, allerdings nur auf Schweren Kreuzern und den Trägerklassen. Nur sie konnten den Jäger mit dieser niedrigen Wärmesignatur aufspüren.

 

Die anderen Militärschiffe und die meisten Zivilschiffe benutzten nur ungekühlte Detektoren, die nur einen Temperaturbereich von -30 Grad bis +900 Grad Celsius abdeckten. Die teuersten, gekühlten Einheiten, die im Zivilbereich eingesetzt wurden, gingen immerhin schon bis -50 Grad Celsius.

 

Doch an diesen theoretischen Teil seiner Ausbildung dachte der Jäger jetzt nicht. Er betrachtete den Würfelzucker, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Sollte er es wirklich tun? Konnte er es riskieren?

 

Ja, klar!

 

Dann steckte er sich den Zucker in den Mund. Dieser hässliche Widerspruch von Süße und Bitterkeit verursachte ein leichtes Pieksen in seinen Nasennebenhöhlen.

Akio beeilte sich, den Würfel zu zerkauen und runterzuschlucken. Er atmete noch einmal kurz tief ein, dann umarmte ihn die Witwe.

 

Er war schon weggetreten, als sein mobiGlas vibrierte. Sein digitaler Pulsmesser gab stillen Alarm. Doch Akio befand sich schon an einem anderen Ort. Die Witwe führte ihn zurück in seine Kindheit, zu einem längst vergessenen Erlebnis.

„Vanduulhorde rechts von uns!“, schrie Akio, „Halte genau darauf zu. Die Prinzessinenjacht muss unbedingt gerettet werden.“

„Die Prinzessinenjacht?“, fragte sein kleinerer Bruder Kimo enttäuscht zurück. „Das ist doch langweilig.“

 

Die beiden Jungs saßen im Kommandostand der neuen Constellation ihres Vaters, die heute im Hangar angekommen war. Akio saß im Kapitänsstuhl, der in einem gebogenen Arm von der Decke hing. Kimo hatte rechts von ihm auf dem Steuersitz Platz genommen. Beide Kinder sahen verloren aus in den mächtigen Sesseln.

 

 

„Dann ist es halt die Goldfregatte des Imperators, in dem er seinen ganzen Staatsschatz mit sich führt. Sie darf nicht in die Klauen der Vanduuls fallen.“

Akio zeigte mit seinem schmächtigen Arm nach rechts.

„Auf sie mit Gebrüll!“, kommandierte er. „Volle Fahrt voraus!“

„Aye, aye, Kapitän!“, antwortete Kimo beflissen.

Beide beugten sich nach Rechts, um die Kursänderung zu simulieren.

„Iiiiuuuuu…“, ahmte Kimo die Triebwerksgeräusche nach.

„Feuerkanonen klarmachen für vollen Dauerbeschuss“, rief Akio.

„Sind alle klar, Kapitän“, bestätigte sein Bruder.

 

Sie schauten aus den kristallklaren Fensterwänden hinaus in den hell erleuchteten Luxushangar. Doch in ihrer Phantasie sahen sie das dunkle Weltall, die in allen möglichen Farben glitzernden Sterne und eine unheilvolle Flotte von gefährlichen Gegnern.

 

„Dann gib es ihnen! Mach sie fertig! Sie sollen wissen, dass sie mit den Musketieren des Imperators nicht einfach so Tango tanzen können.“

„Prrrch, prrrch, prrrch“, machte Kimo, „Zwei Scythe zerstört.“

„Gut gemacht, Steuermann“, lobte Akio, „Den Rest auch noch.“

„Drrrrrrrr“, simulierte Akio ein Dauerfeuer. „Ein weiterer explodiert. Drrrrrrr. Die anderen ergreifen die Flucht.“

„Jaaa! Der Imperator wird begeistert sein. Und wieder haben seine beiden treuesten Krieger sein Reich gerettet.“

„Er wird uns einen Orden geben und uns zu Ritter schlagen.“

„Er wird uns zu Ehren ein riesiges Fest veranstalten. Alle Ritter werden uns beneiden.“ Akio reckte seine beiden Ärmchen in einer Siegerpose nach oben.

„Genau“, rief Kimo und imitierte die Siegergeste von Akio. „Wir sollten ein Fest feiern und wie Helden essen. Lass uns nachsehen, ob wir etwas im Kühlschrank finden.“

 

Sie sprangen aus den übergroßen Sesseln und liefen nach hinten durch die offene Lobby. Decke, Wände und Boden dieses geräumigen Durchgangs waren in einer angenehmen, milchigweißen Atmosphäre von Alustahl gehalten. Weiche Einlagen aus weißem Leder unterstützten das geschmackvolle Ambiente. Vereinzelte Holzapplikationen aus dunklem, rotbraunen Mahagoni, der auf Hochglanz poliert worden war, setzten die modisch stilvollen Akzente. Weiße Leuchtstoffröhren erhellten den Raum, ohne störend zu blenden.

 

An Steuerbord hing ein großer, runder Tisch von der Decke, der von einer halbkreisrunden Mahagonisitzbank umrahmt war. In der Mitte der Lobby befand sich in der Decke ein Andockring, der verschlossen war. Durch den Zweiten im Boden waren die beiden Kinder hereingekommen.

 

Akio und Kimo liefen an den dahinter liegenden Gästekojen vorbei, die in der Wand eingelassen waren und die im Notfall als Rettungskapseln dienen konnten.

Sie erreichten den Konferenz- beziehungsweise den Speiseraum. Als visuell gegensätzliche Note wurden hier verstärkt die Mahagoniapplikationen eingesetzt. Boden und Wände waren hier großflächiger mit dem warmen Braunton ausgelegt.

 

Der zentrale Blickfang unter dem großen Sternenoberlicht aus verstärktem Acrylglas war der Kristalltisch aus bruchfestem Saphirglas und der polierten Edelstahlumrandung. Die sechs dazu passenden Stühle, die um ihn herumstanden, verliehen mit ihrem silbernen Stylingsdetail dem Innenraum die ruhige Eleganz und den aufmüpfigen Schick. Hinter den Stühlen befanden sich zwei weitere Andockringe in den Wänden.

 

Am anderen Ende des Raumes lenkte ein ultramoderner Rivon-Breitbildfernseher die Aufmerksamkeit auf sich. Eine kleine Ledersitzgruppe davor vervollständigte das Arrangement für ein beschauliches Heimkinoerlebnis.

 

An der Steuerbordseite war eine gut gefüllte Bar mit einem Tresen aus glänzendem Edelholz, vor dem zwei Hocker standen, die den gleichen glassilbernen Style hatten, wie der Tisch und die Stühle. Gegenüber der Bar befand sich die Küchenzeile hinter einer Essensablage und zwei weiteren Barhockern. In der Wand befanden sich links ein Kühlschrank mit einer gebürsteten Edelstahltüre, sowie zwei Einbauschränke über der Spüle und der Arbeitsfläche.

 

Kimo öffnete den Kühlschrank.

„Bah, leer“, sagte er.

„Toll, Sektsprudel“, kommentierte Akio ironisch den einzig vorhandenen Inhalt.

„Dann gehen die Helden halt hungrig nach Hause“, maulte sein Bruder.

„Mist. Es muss doch etwas geben“, erwiderte Akio und er öffnete die Schubladen. Aus einer von ihnen holte er ein langes Fleischmesser heraus.

„Hier ist mein Samuraischwert. Das nächste Mal entern wir die Bestien und erobern uns die Schiffe.“

 

„Lass mich mal halten“, bat ihn Kimo.

„Das ist ein Kapitänsschwert“, lehnte Akio ab. „Dafür bist du zu klein.“

„Gar nicht“, brummte Kimo. „Gib her.“

„Nein. Das ist gefährlich.“

„Ist es nicht. Du willst es nur behalten.“

„Na und? Ein Kapitän braucht ein Kapitänsschwert.“

„Ich sage es Vati“, entgegnete Kimo.

„Das wirst du nicht“, konterte Akio. „Du bist schließlich mein Bruder.“

„Aber Brüder teilen miteinander“, begehrte Kimo auf.

 

Akio dachte einen Moment nach und schaute das Messer in seiner Hand an. Es war groß und sah auch verdammt scharf aus. Akio bekam Angst, dass sich Kimo daran verletzten könnte. „Ich sag dir was“, bot Akio einen Kompromiss an. „Ich besiegel unsere ewige Bruderschaft, indem ich unsere Namen in unser Kampfschiff ritze.“

 

Kimo lächelte ihn an. Dann schaute er argwöhnisch. „Das traust du dich doch eh nicht.“

„Aber klar doch“, entgegnete Akio trotzig, „Schau her!“

Er trat an die Essensablage hinter ihnen, nahm vorsichtig das große Messer zwischen Daumen und Zeigefinger und ritzte dann in ungelenken Großbuchstaben ihre Namen in das harte, rot schimmernde Mahagoniholz.

 

„Hier. AKIO und KIMO.“

Kimo schaute auf die Namen auf der Ablageplatte und lächelte glücklich. „Akio und Kimo“, wiederholte er. „Musketiere für immer.“

„Musketiere für immer“, wiederholte Akio.

Plötzlich hörten sie die wütende Stimme ihres Vaters hinter sich.

 

„Was treibt ihr beiden hier?“

Akio zuckte zusammen. Diesen Ton kannte er. So klang ihr Vater, wenn sie wieder etwas angestellt hatten. Und das bedeutete meistens Ärger.

Akio kam relativ schnell wieder zu sich. Er war nur zwei bis drei Minuten weggetreten gewesen. Er kannte seine Sucht und wusste, wie sie funktionierte. Einerseits bildete er sich etwas darauf ein, doch andererseits war ihm bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der körperliche und seelische Zerfall einsetzte. Er konnte es spüren.

 

Die beiden Piratenschiffe waren immer noch zu weit entfernt, als dass der Jäger sie auch bei besseren Lichtverhältnissen hätte sehen können. Die Anzeige in seinem HUD machte ihm allerdings deutlich, dass es Zeit für ihn war.

 

Akio blickte durch die Kanzelscheiben nach draußen in die ewige Nacht. Er konnte vereinzelt wieder Sterne flackern sehen. Doch sein Blick schweifte ab in die Unendlichkeit.

 

Sollte er es wirklich tun? Jetzt hatte er noch die Möglichkeit, sein Vorhaben aufzugeben. Er dachte an die vielen Opfer des CleaverReaper und welche Opfer er persönlich erbracht hatte. Doch dann verscheuchte er diese Gedanken. Er musste es tun. Denn der Schlitzer würde nicht aufhören zu wüten. Es würde noch weitere Opfer geben. Und Akio hätte ihr Blut an den Händen, wenn er jetzt einfach wegfliegen würde.

 

Nein. Der Jäger hatte sich entschieden. Sein Blick wurde fest und bekam den Ausdruck von unbeugsamer Zielstrebigkeit. Er aktivierte seine Remote-App für die Ghost. Dann öffnete er das Kabinendach. Die Atmosphäre entwich als feiner Nebel.

Flüsternd, aber dennoch fest entschlossen, murmelte er:

„Ich werde dich töten, kleiner Bruder.“

 

Dann stieg er aus.

 

Akio kletterte an der Außenwand nach hinten zu dem angeflanschten Stahlring. Er öffnete die acht Klemmverbindungen zu dem etwa zwei Meter durchmessenden Gebilde. Dann gab er seiner Ghost einen kurzen Bremsbefehl. Gehorsam flammten die oberen Korrekturdüsen auf und die modifizierte Hornet fiel langsam zurück. Nach einem kurzen Rückwärtsschub schwebte sein Schiff nach oben weg. Die Ghost hielt nun nicht mehr auf die beiden Piratenschiffe zu und würde in einigen Kilometern Entfernung an ihnen vorbeitreiben.

 

Akio und der Ring schwebten jedoch weiterhin auf das Ziel zu. Der Metallring mit seiner radarabsorbierenden Oberfläche war eine Sonderanfertigung von Tyler Design/Tech für das Militär. Innen war sie rund, um auf die genormten Andockringe von Raumschiffen aufsetzen zu können. Der äußere Rand war 16-eckig, um Radarstrahlen abzulenken und um so die Tarneigenschaft zu erhöhen. Im Ring selber spannte sich eine überaus feste Plastikfolie, die ebenfalls die schwarzgraue Beschichtung aufwies, wie die gesamte Ghost und Akios Raumanzug. Kurz: Es war eine Ein-Mann-Stealth-Schleuse, die verwendet wurde, wenn ein Ghostpilot ein fremdes Schiff infiltrieren sollte.

 

Akios mobiGlas vibrierte. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass die Ghost-App die Verbindung zu seinem Schiff verloren hatte. Der Störsender des Reapers blockierte auch diese Frequenz. Akio war deswegen nicht beunruhigt. Er hatte das erwartet.

 

Schwerelos trieb er an der Seite der Tarnschleuse durch die Dunkelheit. Es dauerte nicht lange, bis der Passivscanner seines Raumanzugs die Schiffe erkannte. Im HUD poppten wieder die Informationen auf.

 

Akio bereitete sich auf das Andockmanöver vor. Er legte sich mit dem Rücken auf die Plastikfolie und streckte Arme und Beine aus. Nun sah er fast so aus wie ein vitruvianischer Mensch in einem Kreis – eine harmonische Verschmelzung von mathematischer Geometrie und menschlichen Proportionen.

 

Der schwarze Jäger aktivierte seine Brustdüsen und bremste so die Fahrt langsam ab. Mit seinen Armen und Beinen gab er den Druck gleichmäßig auf den Ring ab. Es war ein fast unmögliches Manöver. Doch der militärische Drill seiner Spezialausbildung verlieh ihm das nötige Feingefühl. Der Ring behielt seine aufrechte Position und kippte zu keiner Seite hin weg.

 

Nach wenigen Augenblicken dann konnte Akio auch die beiden Schiffe mit bloßem Auge erkennen. Sie waren dunkelgraue Schatten vor dem Hintergrund eines dunkelschwarzen Nichts. Die fast doppelt so lange Constellation des Schlitzers hing im rechten Winkel mit seinem unteren Andockring an dem Kappenring der Freelancer. Beide Schiffe bildeten so den Buchstaben ’L’.

 

Der Jäger schwebte langsamer werdend darauf zu. Plötzlich fühlte sich die Schleuse in seinem Rücken an wie eine schwere Last, die ihn unaufhaltsam nach vorne schob. Hin zu einem unbestimmten Schicksal, das so oder so große Schmerzen für ihn bedeuten würde. Akio wusste, dass sein Bruder auf der Freelancer war und seinem bestialischen Werk nachging. Auch wenn er seine Mission erfolgreich beenden und dem CleaverReaper das Handwerk legen würde …

 

Am Ende würde er doch nur seinen eigenen Bruder töten.

Akio erinnerte sich an den Tag, als er die Nachricht der UEE-Army erhalten hatte, als wäre es gestern gewesen. Dabei lag dieser Tag mittlerweile fünf Jahre zurück.

 

Es war in der zweiten Woche nach seiner Abschlussprüfung in der Aufklärungseinheit gewesen.

In der ersten Woche danach hatte er Heimaturlaub gehabt und sie mit den Eltern Oisin und Sahar in Pakistan auf der Erde verbracht. Seine Mutter war im vierten Monat schwanger und sie waren alle darüber sehr glücklich gewesen.

 

Sein Bruder war zu diesem Zeitpunkt auf einer FCA-Überwachungsbasis auf einem weit entfernten Mond stationiert gewesen. Seine Einheit sollte nach dem Fair Chance Act von 2795 darüber wachen, dass der Planet, den der Mond umkreiste, nicht von gierigen Firmen okkupiert wurde. Denn es gab vielversprechendes Leben auf ihm, das bereits eine primitive Schrift kannte und in kleinen Dörfern zusammenlebte.

 

Akios Urlaub war viel zu schnell vorbei und er kehrte in seine Basis zurück. In der zweiten Woche nach seinem Abschluss hatte er endlich seine persönliche Ghost erhalten. Er war mittendrin, ein Gefühl für sie zu bekommen, als sein leitender Commander ihm die Hiobsbotschaft überbracht hatte.

 

Die FCA-Überwachungsbasis, auf der Kimo stationiert gewesen war, war von einer Vanduulhorde angegriffen worden. Kimo hatte nur sehr schwer verletzt überlebt. Seine Kopfverletzung hatte aus ihm diejenige Bestie gemacht, die er heute war. Die äußeren Verletzungen waren in monatelanger Reha geheilt worden. Doch die durchtrennten Nervenbahnen im Gehirn konnten nicht wiederhergestellt werden.

 

Akios kleiner Bruder Kimo war intelligent und sich seiner Situation sehr wohl bewusst gewesen. Dennoch weigerte er sich, die psychologischen Hilfen in Anspruch zu nehmen. Irgendwann war er dann ohne Erklärung verschwunden.

 

Nur wenige Wochen später gab es die ersten Berichte vom CleaverReaper. Mit seiner grausamen und blutigen Handschrift schaffte er es in nur wenigen Monaten, zum gefürchtetsten Piraten in der UEE aufzusteigen.

 

Die Identifizierung durch den OES-Geheimdienst war ein Schock für die ganze Familie gewesen. Seit Kimos Verschwinden hatten sie immer gehofft, dass er irgendwann wieder zurückkehren würde. Doch diese Wahrheit war viel hässlicher gewesen als all das, was sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen vorgestellt hatten.

 

Kimo war der CleaverReaper.

 

Während Akio durch seinen Militärdienst die Hände gebunden waren, hatten sich seine Eltern auf die Suche nach Kimo gemacht. Über ein Jahr hatten sie benötigt, um ihn zu finden. Ein Jahr, in dem Kimo immer und immer wieder bestialisch gemordet hatte. Was genau bei dem Treffen dann geschah, hatte Akio nie herausgefunden. Auf jeden Fall flog der CleaverReaper seitdem die Connie seines Vaters. Seine Eltern und die damals erst zweijährige Schwester Ling galten seither als vermisst.

 

Als Akio vom Verschwinden seiner Eltern erfahren hatte, war er desertiert. Seine Ghost behielt er als Soldersatz. Seitdem war auf ihn ebenfalls ein Kopfgeld ausgesetzt.

Der Jäger war nervös. Er hatte seine Eigengeschwindigkeit so weit reduziert, dass er nun fast bewegungslos nahe der beiden Schiffe schwebte. Er hatte sich zwar der Constellation des Reapers von oben genähert, doch wollte er nicht den oberen Andockring benutzen. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass verräterische Geräusche durch die offene, untere Schleuse in die Freelancer gedrungen wären. Somit hatte sich Akio für den hinteren Steuerbordring entschlossen. Dieser Ring war der Freelancer abgewandt und die Möglichkeit einer optischen Entdeckung so gut wie ausgeschlossen.

 

 

 

Nun war der Moment gekommen, um die Schleuse in Position zu bringen. Dies war der gefährlichste Moment bei jeder geheimen Entermission. Denn jetzt musste sich der Jäger voll und ganz auf den frei schwebenden Ring konzentrieren. Akio verließ seine vetruvianische Position in der Ringmitte, um ihn die letzten Meter zu korrigieren und ihn auf den Schiffsandockring zu legen. Während dieser Phase ließ er die Schiffe unbeobachtet. Hätte man ihn jetzt bemerkt, hätte Akio es erst dann erfahren, wenn es schon zu spät gewesen wäre.

 

Er manövrierte die Infiltrationsschleuse so an die Connie heran, dass er selbst zwischen ihr und dem Schiff eingeschlossen war. Durch die Lukenscheiben der Connie hindurch sah Akio den Speiseraum. Der Glastisch und die Stühle aus seiner Kindheit waren verschwunden. Überall lagen Waffen- und Munitionskisten herum. Doch viel wichtiger war, dass niemand sonst zu sehen war.

 

Akio hielt sich mit einer Hand an der Luke fest und zog seinen Ring soweit heran, bis die magnetischen Halterungen Kontakt hatten. Dünne Hartgummipolster an seinem Ring verhinderten das verräterische Klacken im Schiffsinneren, wenn Metall auf Metall stieß. Die Kontakthalterungen schnappten zu und hielten nun beide Ringe fest zusammen.

 

Akio befand sich nun zwischen der Eingangsluke und der Plastikhaut seines Ringes. Er öffnete eine Druckluftflasche und Atemluft strömte in diesen Zwischenraum. Durch den steigenden Luftdruck wölbte sich die ledrige Ringhaut nach außen. Nach wenigen Sekunden war die Pressluftflasche geleert. Der Jäger blickte noch einmal durch die Lukenscheiben. Im Innern war alles ruhig.

 

Er überwand das Schloss mit Hilfe eines magnetischen Infiltrationsschlüssels und öffnete die Türe. Die Luke drehte sich um 90 Grad im Uhrzeigersinn und die hydraulischen Schiebetüren verschwanden zischend zur Seite.

 

Zusätzliche Luft strömte in den Zwischenraum und die Plastikhaut blähte sich wie ein Ballon auf. Doch sie hielt.

Akio stieg über in das ehemalige Schiff seiner Eltern. Er lauschte, ob die Helmmikrofone etwas aufnahmen. Doch alles war ruhig.

 

Der ehemals noble Speiseraum der Constellation war verwahrlost. Die Wände waren dreckig und zerkratzt. Nichts war mehr so, wie Akio es in Erinnerung hatte. Er nahm es emotionslos hin. Es war nur noch wie jedes andere Piratenschiff.

 

Akio drehte sich noch einmal um und deaktivierte den Sicherheitsmechanismus der Luke. Dann brachte er einen kleinen Sprengsatz an der Infiltrationsschleuse an.

Danach zog er seinen Strahler und ging in Richtung Bug. Er kam an der Küchenzeile vorbei. Dreckige Teller und Gläser standen in der Spüle. Auf dem Boden lagen leere Verpackungen.

 

Akios Blick fiel auf die Essensablage, die vor der Küche stand. Von plötzlicher Wehmut ergriffen blieb er davor stehen. Auf dem Mahagoniholz waren deutlich die beiden Namen zu sehen, die er vor so vielen Jahren mit linkischer Kinderschrift hineingeritzt hatte. Doch jemand hatte einen weiteren Namen hinzugefügt. Hinter den Namen Akio und Kimo stand nun der Name seiner Schwester Ling. Akio erkannte die geschwungene Handschrift seines Vaters. Auch wenn er sich früher immer darüber aufgeregt hatte, dass die Kinder ihm sein neues Schiff ruiniert hatten, musste es ihm irgendwann doch etwas bedeutet haben. Entweder später, als sie das Zuhause verlassen hatten, oder bereits schon immer. Und sein Ärger war nur gespielt gewesen.

 

Akio schnappte nach Luft, weil er unabsichtlich den Atem angehalten hatte. Dann zwang er sich dazu, weiterzugehen. Er hatte schließlich etwas zu erledigen.

 

Leise schlich er in die Lobby zu der geöffneten Andockluke im Boden. Seine Außenmikrophone vernahmen höhnisches Gelächter. Offenbar war der Kampf um die Freelancer vorbei und der CleaverReaper tat, was er danach immer tat.

 

Den Jäger kümmerte es nicht. Nicht in diesem Fall. Denn Shining Eye war kein Heiliger. Er hatte ebenfalls sehr viele Gräueltaten begangen. Akio sah das hier als dessen gerechte Strafe an.

 

Bevor der Jäger auf das andere Schiff überwechselte, musste er noch etwas erledigen. Mit wenigen Schritten war er im Kommandostand. Auf dem rechten Touchpad des Kapitänsstuhls legte er den virtuellen Schalter für den Störsender um.

Fast zeitgleich vibrierte sein mobiGlas und machte den Jäger darauf aufmerksam, dass die Remoteverbindung zu seiner Ghost wieder hergestellt war. So weit, so gut.

 

Akio ging zur Luke zurück. Er verspürte eine leichte Nervosität. Er blickte hinunter und sah den kahlen Boden der ’Lancer. Er hörte Stimmen, die aus dem hinteren Teil der MIS kamen. Eine erkannte Akio als die seines Bruders.

 

Erneut zögerte der Jäger. Wollte er es wirklich tun? Er hatte in seiner Laufbahn schon viele getötet. Menschen sowie Xenos. Sie hatten es alle verdient gehabt. Sein Bruder hatte es ebenfalls verdient. Mehr als alle anderen. Doch er war sein Bruder. Nichtsdestotrotz hatte er keine Wahl. Sein Bruder war eine Bestie. Die Schlimmste von allen. Er musste es tun.

 

Doch konnte er es überhaupt tun? Die Frage würde er wohl nur dann endgültig beantworten können, wenn er direkt vor ihm stand. Der Jäger atmete tief durch. Er zog seine Waffe. Dann glitt er leise durch die Luke.

Fast lautlos berührten seine Stiefel den dunkelgrauen Stahlrost des Bodens. Akio stand zwischen den beiden Etagenbetten. Der faltbare Sichtschutz auf der linken Seite war eingedrückt.

 

Akio sah zum Heck und erwartete, einen durchgehenden Blick in den Frachtraum zu haben. Doch gleich am Eingang versperrte eine große, umgestürzte Kiste die Sicht. Keine Gefahr demnach, dass er von dort entdeckt werden konnte.

 

Der Jäger drehte sich um und warf einen Kontrollblick zum Cockpit. Über der Lehne des Waffenkommandostands gebeugt hing eine Leiche. Ansonsten war das Cockpit verwaist. Akio wandte sich wieder zum Heck. Leise schlich er sich nach hinten. Die Tischpanels der beiden wissenschaftlichen Kontrollstationen waren eingeklappt. Dahinter befanden sich links die Nasszelle für Toilette und Dusche, sowie rechts ein kleines Waschbecken und ein kleiner Herd.

 


Dahinter ging es durch eine Strahlenschutztüre in eine kleine Zwischenkammer auf Höhe der Flankenwaffen. Mit einer ausfahrbaren Teleskopleiter konnte man hier zum Energieaggregat des Schiffes hochklettern.

 

Nach einer zweiten Stahltüre führte ein enger, sechs Meter langer Gang bis zum eigentlichen Frachtraum. Hinter den Wänden dieses Ganges befand sich der Express Raketennachfüller von Behring. Dahinter öffnete sich der Gang in den Frachtraum, der in dieser Schiffsausführung kleiner ausfiel, als bei den anderen Freelancervarianten.

 

Die zwei Meter hohe Kiste, die Akio gleich zu beginn gesehen hatte, war absichtlich in den Gang gestellt worden. Sie war durch keinen Haltegurt mehr gesichert. Wahrscheinlich hatte sie Shining Eye als Deckung dort hingestellt.

 

Der Jäger konnte nun ganz deutlich die Stimmen verstehen. Aus den Verhöhnungen seines Bruders konnte er schließen, dass der Schlitzer seine grausame Prozedur offenbar schon durchgeführt hatte. Begleitet wurden seine Beleidigungen von dem Gelächter seiner beiden Helfer, die ihn begleiteten.

 

Der Jäger zwängte sich lautlos nach links zwischen der großen Kiste und der Wand entlang. Er bewegte sich extra langsamer, damit sein Anzug nicht laut schabte. Vorsichtig lugte er ums Eck. Der schmale Korridor, den die Kiste mit der Schiffswand bildete, endete nach zwei weiteren Metern.

 

Eigentlich hätte jemand, der sich auf diese Weise verbarrikadiert, sehr gute Chancen, einen Enterraub zu überstehen. Doch die Infraschallkanone machte aus rational denkenden Menschen wimmernde Feiglinge.

 

Kimo hatte keine Schwierigkeiten gehabt, Shining Eye zu überwältigen. Die Schallkanone wirkte bei ihm nicht. Denn ohne ein Gefühl für Angst konnte er nicht in Panik verfallen. Akio schlich weiter. Je mehr er sich dem Ende der Kiste näherte, um so größer wurde sein Sichtfeld in den dahinterliegenden, freien Frachtraum.

 

Dann sah er die beiden Schergen. Sie standen direkt neben der Kiste mit dem Rücken zu ihm. Ihre Raumanzüge waren alt, fleckig und zerkratzt. Die Plexiglasscheiben ihrer Helme hatten sie nach oben geklappt. Akio hätte die beiden mit ausgestrecktem Arm erreichen können. Unwillkürlich hielt er den Atem an.

 

Er nahm seinen Strahler in seine linke Hand und legte an. Aus dieser Entfernung konnte er sie nicht verfehlen. Er schoss auf den Piraten, der näher zu ihm stand. Der Schuss ging direkt durch seinen Hinterkopf. Ehe der zweite Pirat reagieren konnte, schoss Akio ein weiteres Mal. Beide Piraten fielen leblos zu Boden.

 

Dann trat Akio aus dem schmalen Zwischenraum hinaus.

 

Akio hatte erwartet, seinen Bruder kampfbereit oder zumindest überrascht vorzufinden. Doch Kimo war über die ausgeweidete Leiche von Shining Eye gebeugt und schaute ihn seelenruhig von unten herauf an. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Akio erkannte sofort, dass es nicht die Freude war, ihn zu sehen. Kimo lächelte, weil ihm das Töten ein Gefühl vermittelte. Welches Gefühl er auch immer dabei verspüren mag, es war das einzig übriggebliebene Gefühl in seinem Leben.

 

„Wurde auch Zeit, dass du kommst“, sagte der CleaverReaper ruhig und legte sein blutverschmiertes Hackebeil zur Seite.

„Du bist ’ne schwierige Beute“, antwortete der Jäger. Sein Strahler zielte ruhig auf die Brust des Reapers. Mit der anderen Hand schob er seine Helmfront nach oben. Er wollte, dass ihm sein Bruder ins Gesicht sah.

 

Ein kurzer Moment des Schweigens.

„Du siehst Scheiße aus“, bemerkte Kimo. Dabei ignorierte er, dass sein Raumanzug von oben bis unten blutbefleckt war.

„Besser Scheiße aussehen, als Scheiße sein“, konterte Akio.

„Du kannst mich nicht beleidigen.“

„Ich weiß“, erwiderte Akio, „Aber deswegen bin ich ja auch nicht hier.“

 

Kimo grinste ihn nun ganz überlegen an.

„Na dann tu’s doch!“, forderte er seinen Bruder auf.

Akio hob seinen Waffenarm etwas an. Doch er zögerte.

„Was ist?“, fragte Kimo. „Glaubst du, ich werde um mein Leben betteln? Vergiss es!“

 

Akio blickte hinunter auf den toten Shining Eye. Die Bauchdecke war geöffnet und die Gedärme hingen heraus. Alles war voller Blut. Akio stellte sich vor, dass das da auch sein Vater sein könnte, seine Mutter oder – ein kleines Baby, zwei Jahre alt, Ling. Dieser Gedanke machte ihn wütend. Er schnaubte verärgert.

 

Mit hörbarem Zorn in der Stimme sagte er: „Ich habe nicht erwartet, dass du bettelst. Dazu bist du gar nicht mehr fähig.“

„Na siehst du“, höhnte Kimo, „du weißt es, ich weiß es. Bring es zu Ende!“

 

Akio biss sich so fest auf die Zähne, dass seine Backenmuskeln schmerzten. Er spürte, wie sein Zeigefinger verkrampfte. Er würde eine Bestie töten, versuchte er sich selbst zu überzeugen. Das grässliche Morden würde aufhören und seine plagenden Selbstvorwürfe würden verschwinden.

 

Der Jäger sah seinem Bruder in die Augen. Sie waren kalt und ohne Emotionen. Zwei schonungslose Spiegel seiner Seele.

Und doch … Die Kindheitserinnerung stieg wieder in ihm auf.

 

 

„Was treibt ihr beiden hier?“, fragte ihr Vater scharf.

Akio stand starr vor Schreck. Er hatte gerade das teure, neue Schiff zerkratzt.

„Das war ich“, hörte Akio seinen Bruder Kimo schuldbewusst sagen, „Es tut mir leid.“

 

Akio war zu überrascht, um seinem kleinen Bruder zu widersprechen. Bevor er etwas sagen konnte, fragte ihr Vater:

„Was hast du gemacht?“

Kimo zeigte auf die Ablage und antwortete:

„Ich habe Akio gezeigt, dass ich unsere Namen schreiben kann.“

„So, du hast das geschrieben“, sagte ihr Vater ungläubig, „Aber Akio hat das Messer.“

„Er hat es mir weggenommen“, erwiderte Kimo ohne zu zögern. „Er wollte nicht, dass ich mich verletze.“

 

Akio schaute seinen Bruder von der Seite an. Er konnte es nicht glauben, dass Kimo die Schuld für das hier übernahm. Ihr Vater würde ausrasten deswegen. Die Strafe wäre mit Sicherheit die Verbannung in die Vanduulzone. Für immer.

„Na da kann ich ja wohl froh sein, dass ich wenigstens einen Sohn habe, der vernünftig ist.“

 

Dabei hatte sein Vater Akio einen Blick zugeworfen, den dieser sehr gut verstanden hatte. Ein Gefühl tiefen Schuldbewusstseins hatte von ihm Besitz ergriffen. Und er hatte verstanden, dass Kimo der bessere Sohn für seinen Vater gewesen war. Das hatte ihn ganz besonders geschmerzt.

 

Ihr Vater hatte sie dann aus der Connie hinausgeworfen. Aber überraschenderweise hatte er sie nicht weiter bestraft.

Als sie in dem kleinen Lift standen, mit dem sie die Phoenix verließen, hatte Kimo seinem großen Bruder noch zugeflüstert:

„Musketiere für immer.“

Die Erinnerung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Akio spürte, wie ihm eine Träne an der Nase herunterlief. Er konnte seinen Bruder nicht erschießen. Egal, was er getan hatte. Langsam senkte er seinen Arm.

 

Der Jäger, der so lange Jahre gebraucht hatte, um seine Beute zu stellen, hatte nun Mitleid. Was auch immer aus seinem Bruder geworden war, es war doch nicht dessen Schuld. Es würde Akio das Herz brechen, würde er nun seinen Bruder erschießen.

 

Langsam stand Kimo auf. Er schien sich seiner Situation sehr sicher zu sein. Akio glaubte, so etwas wie Verachtung in seinen Augen zu sehen. Aber das konnte unmöglich sein. Kimo war auch zu diesem Gefühl nicht mehr fähig.

„Du kannst mich nicht töten.“

 
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Akio blieb die Antwort schuldig.

„Du glaubst wirklich, ich könnte mich ändern?“

Der Jäger sah seinem Bruder an, dass dieser die Antwort besser kannte, als jeder andere. Kimo zog seine Waffe.

„Vater hat das auch geglaubt.“

Er schüttelte kurz den Kopf.

Akio ergab sich seinem Schicksal.

„Sorry, großer Bruder.“

Dann schoss er.

Akio starb sofort. Er fiel nach hinten. In dem engen Zwischenraum zwischen der großen Kiste und der Schiffswand kam er zum Liegen. Kimo schaute ihn an und steckte seinen Strahler wieder ein.

 

Ein ganz leises, kurzes Brummen war zu hören. Noch einmal. Und noch ein drittes Mal. Es war das mobiGlas des Jägers. Der Pulsmesser hatte den ausbleibenden Puls registriert und schlug Alarm. Ein kleines Stapelverarbeitungsprogramm, das der Jäger erstellt hatte, wurde aktiviert.

Durch diese Batchdatei sendete das mobiGlas des toten Jägers zwei Impulse ab.

 

Der erste Impuls ging an den kleinen Sprengsatz in der Infiltrationsluke. Im Nachbarschiff gab es eine laute Explosion. Das graue Plastik der Luke wurde in Fetzen in den Weltraum gesaugt. Wertvoller Sauerstoff stob hinterher. Die künstliche Intelligenz der Connie wollte die Luke schließen, doch der Sicherungsmechanismus war deaktiviert worden. Die KI versuchte dennoch immer wieder, den Andockring zu verschließen und war so in einer Endlosschleife gefangen.

 

Die Sensoren der Freelancer maßen zur gleichen Zeit ebenfalls einen dramatischen Druckabfall in der Kabine. Die KI der MIS allerdings konnte die Notschließung ihrer eigenen Luke durchführen. Der Durchgang zur Connie wurde geschlossen.

 

Der CleaverReaper wusste sofort, dass sein Bruder dafür verantwortlich war. Mit einem kleinen Fluch stieg er über Akio drüber und zwängte sich nach vorne zum Bug. Er war klug genug, um zu wissen, dass Akio sich noch etwas anderes ausgedacht hatte. Akio hatte gewusst, dass er einen Raumanzug tragen würde. Kimo musste nur die Luft aus der Freelancer lassen, um einen Druckausgleich herzustellen. Dann konnte er die Schleuse öffnen und zur Connie überwechseln. Abzukoppeln und Wegzufliegen war dann keine große Sache mehr.

 

Aber die Luft abzusaugen und die Schleuse zu öffnen kostete Zeit. Und Kimo wusste genau, dass er diese Zeit nicht mehr hatte. Dennoch rannte er ins Cockpit der ’Lancer und hämmerte die nötigen Befehle in die Konsole.

Die Zeit rann ihm davon.

 

Mit dem zweiten Befehl des Batchprogramms sandte das mobiGlas das Bei-Fuß-Kommando für die Ghost aus. Die KI der modifizierten Hornet empfing das Signal und aktivierte seinerseits die Rückflugprogrammierung.


Die Korrekturdüsen stoppten das freie Treiben durch den Raum und richteten die Schiffsnase auf das rufende mobiGlas. Die Antriebsdüsen feuerten volle Fahrt.

 

Danach rief die Ghost-KI gemäß der von Akio vorgegebenen Kommandoverarbeitung ein Waffenprogramm auf. Während die Ghost sehr schnell an Fahrt aufnahm, spuckten die beiden Gallenson Mantis GT-220 Gatlingkanonen, die unter den kantigen Flügeln angeflanscht waren, flammend das Verderben auf die Freelancer. Die überschallschnellen Projektile schlugen erbarmungslos in ihre hintere Flanke. Die Panzerverkleidung spritzte in alle Richtungen davon.

 

Sekunden vergingen.

 

Kimo konnte das wilde Rattern an der Außenhülle hören. Er nahm es emotionslos hin. Völlig ruhig schaute er durch das Fenster hinaus nach vorne und wartete auf das Ende. Es gab nichts zu sehen. Nur die ewige Schwärze der Dunkelheit.

Die Schiffe vergingen in einer gigantischen Feuerwolke.

Autor:  Sven Schmidt   RSI-Handle:  tehuti